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STUTTGART/ Liederhalle: LIEBEN SIE BRAHMS? – 1. Sinfoniekontert des Staatsorchesters Stuttgart/ Haenchen/ Zimmermann

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Stuttgart/ Liederhalle/ Beethoven-Saal: 1. Sinfoniekonzert des Staatsorchesters Stuttgart am 11.10.2015
BEIDE LIEBEN BRAHMS

Der Dirigent Hartmut Haenchen ist ein Nachfahr des Dirigenten Fritz Steinbach, der zusammen mit Johannes Brahms dessen Werke unter anderem mit der Meininger Hofkapelle einstudierte. Deswegen legt Haenchen auch auf eine authentische Interpretation gerade bei Johannes Brahms großen Wert. Davon konnte man sich im Beethovensaal überzeugen. Der Stargeiger Frank Peter Zimmermann interpretierte zusammen mit dem klangschön musizierenden Staatsorchester Stuttgart unter der impulsiven Leitung von Hartmut Haenchen das Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 77 von Johannes Brahms mit einem intensiven Klangsinn für den wunderbaren Abgesang des ersten Satzes. Da wuchsen Geige und Orchester zur Einheit zusammen.

Das Werk wurde im Jahre 1878 wie die zweite Sinfonie am Wörtner See geschrieben. Zimmermann erfasste insbesondere die lyrische Gelöstheit der Komposition in wirklich bemerkenswerter Weise. Gedankenernst und Gefühlswärme ergänzten sich im ersten Satz ideal. Das merkte man sogleich beim ungestümen Hauptthema Allegro non troppo des ersten Satzes. Schlicht wurde hier der D-Dur-Dreiklang durchmessen. Männlicher Ernst, Kraft und Gefühl vereinigten sich in beglückender Weise. Und die Ausdrucksfülle wurde bei Frank Peter Zimmermanns Geigenspiel immer größer. Auch das gezackte Seitenthema konnte sich bestens entfalten. Gelassen glättete er mit seinen einfallsreichen Improvisationen die unwirsche Stimmung. Und das Kopfthema strahlte hell auf. Reminiszenzen an die dritte Sinfonie machten sich facettenreich bemerkbar. Die Durchführung verarbeitete dieses Material bei Hartmut Haenchens und Frank Peter Zimmermanns Wiedergabe kunstvoll, aber mit einiger Verbissenheit. Das Hauptthema kehrte jedenfalls in makelloser Schönheit zurück. Der zweite Adagio-Satz lebte dann ganz aus der schlichten Melodie, die ein tiefes Gefühl mehr verschwieg als preisgab. Friedvoll und still strömte sie hin, wich im Mittelteil einer drängenden Unruhe und kam dann wieder, als habe sie nun auch den letzten Erdenrest abgestreift – und so ließ sie Zimmermann sphärenhaft in der Höhe entschweben. Diese Passage gelang ihm am besten. Erdnah kam dann das Schlussrondo (Allegro giocoso, ma non troppo vivace) daher, dessen ungezügeltes Temperament sich mit Geige und Orchester in wilder Weise entfalten konnte. Mit hochvirtuosen Gesten beschloss Zimmermann diesen Satz – und bot eine Bach-Hommage als Zugabe. Man merkte: Haenchen und Zimmermann lieben beide Brahms, ganz im Sinne von Francoise Sagans Roman. Eine positive Überraschung war auch die Wiedergabe der ersten Sinfonie in c-Moll op. 68 von Johannes Brahms, wo Hartmut Haenchen die Strukturen der Komposition in ganz ungewöhnlicher Weise herausarbeitete. Das erste Thema wuchs zu Keim und Motto dieser Sinfonie heran. Mit schmerzlicher Gewalt drängten die beiden Linienzüge auseinander. Stockende Halbtonschritte arbeiteten sich kunstvoll in die Höhe, lösten sich von den starren Schlägen in Bässen und Pauke. Als Gärstoff konnten sich diese Halbtonschritte bei Haenchen brodelnd entfalten. Wie ein Bildhauer arbeitete er die Formen und Strukturen gewaltig heraus. Mit verbissener Energie arbeitete sich das Thema voran, bis sich das zweite Thema sanft in den Oboen durchsetzte. Der Eindruck mächtigen Ringens blieb bei dieser Interpretation stets vorherrschend. Trost und Frieden herrschte dann im zweiten Satz Andante sostenuto. Wieder meldeten sich die geheimnisvollen Halbtonschritte im Takt 3 und 5/6. Tragische Macht machte sich hierbei bemerkbar. Verklärte Klänge brachten zuletzt den Frieden. Friedlich-verträumt sang das Un poco Allegretto e grazioso des dritten Satzes vor sich hin und verharrte in anmutigem Helldunkel. Warme Farben der Holzbläser schufen hier ein reizvolles Idyll. Im Finale gelang es Hartmut Haenchen, mit ungeheurer Kraft den lastenden Druck des Adagios zu sprengen. Trotz und Verzweiflung meldeten sich ungestüm. In mildem Leuchten der Streicher ertönte ein naturhaftes und erdentrücktes Hornthema. Alphorn-Assoziationen gemahnten sogar an Wagners Welt. Die Choral-Antwort auf die Horn-Verheißung erinnerte bei dieser Wiedergabe an Brahms Erz-Rivalen Bruckner. Straff ertönte das rüstige Hauptthema, bei dem das Staatsorchester Stuttgart zu großer Form auflief. Vor allem die Dur-Energie setzte sich machtvoll durch, Beethovens neunte Sinfonie ließ grüßen. Leidenschaftliche Auseinandersetzungen gipfelten in einer jubelnd bewegten Stretta, die sich wiederum gegen Halbtonschritte durchzusetzen wusste. Haenchen betonte große melodische Bögen nicht übermäßig, sondern akzentuierte auch schroffe Wechsel ganz im Sinne von Brahms in dynamisch ungewöhnlicher Weise. So hörte sich manche Sequenz neuartig an. Frenetischer Schlussapplaus.

In der Auftaktveranstaltung „Erfahrungen eines Dirigenten“ erzählte Hartmut Haenchen im Gespräch mit Rafael Rennicke von seinen Erfahrungen in der DDR-Diktatur. Der außerdem gezeigte Dokumentarfilm „Der Himmel über Dresden“ über den Dirigenten Hartmut Haenchen von Paul Cohen und Martijn van Haalen errang auf dem 33. Filmfestival in Montreal die Goldene Palme.

Alexander Walther

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