MET IM KINO: „OTELLO“–18.10. – Wien Cineplexx Landstraße
Man sollte nicht glauben, von welchen Unwägbarkeiten es abhängt, ob man die ganze Geschichte überhaupt für glaubwürdig hält oder nicht. Äußerlich betrachtet, ist sie völlig unlogisch. Wie kann der Titelheld nur so dumm sein und nie die Aussagen Jagos hinterfragen? Wie kann er, nachdem Desdemona mindestens ein Dutzend Mal ihre Unschuld beschworen hat, ja, ihm nicht einmal Vorwürfe macht, dass er nach ihrer Treue fragt, so borniert sein, dass er keine Überlegungen anstellt, was sie wohl an Cassio so anziehend finden könnte? Mord aus Eifersucht – ja, das ist kein Einzelfall, aber dass derart viele von Jago in seiner Bosheit geplanten „Zufälle“ dem Mord vorangehen? Dass der 74-jährige Verdi wie sein Librettist Boito und zuvor schon Shakespeare an die Geschichte geglaubt hat, beweist doch nur, dass er wusste, wie man sie glaubhaft machen kann. Shakespeare hatte es insofern leichter, als er mit viel mehr Text detailliert die Handlungsmotive seiner Charaktere ausarbeiten konnte. Aber Verdi hatte die Musik. Die ist jedoch so subtil, auch wo es kracht und dröhnt, dass nur die sensibelsten Sänger und Dirigenten sie perfekt realisieren können.
Das geschah in dieser MET-Übertragung optimal von Seiten des Dirigenten Jannik Nézet-Séguin. Im Kino ist zwar der Ton meist zu laut eingestellt, aber da man auf dem Bildschirm den Dirigenten nur beim Betreten und Verlassen des Orchestergrabens sieht und das Bühnengeschehen stets im Vordergrund gezeigt wird, sind sich gewiss nicht alle Zuschauer dessen bewusst, wie gut der musikalische Leiter und sein Instrumental-Team wirklich ist. Diesmal fiel einem die Qualität des Musikerensembles oft nur dort sozusagen als Bühnenersatz wirklich auf, wo ein Sänger der musikalischen Aussage Verdis nicht völlig gerecht wurde. Das betrifft vor allem den Titelrollensänger, der erst im 3. und 4. Akt durch temperamentvollen Spieleinsatz und rückhaltslos eingesetzte Stimmkraft bis zu einem gewissen Grad fesseln konnte.
Dem muss vorausgeschickt werden, dass es wohl zwischen der Uraufführung 1887 und dem Jahr 2015 viele kraftvolle Sänger gegeben hat, aber nur einen einzigen Tenor, der das Allerletzte an Gefühlsintensität aus der Rolle herausgeholt hat: Plácido Domingo. Wer auch nur ein einziges Mal erlebt hat, wie dieser Künstler sich im Liebesduett mit Desdemona vor Glückseligkeit geradezu auflöst, wie er noch im entrücktesten pianissimo mit einer geradezu überwältigenden Stimmschönheit, Gefühlskraft und verklärtem Gesicht sein Liebesglück besingt, wobei Otello ja sowieso die Unwiederholbarkeit dieses „momento supremo“ befürchtet, dem wird es kein Rollennachfolger mehr recht machen können. Diese totale Selbstentäußerung erklärt aber wohl auch, was dem Otello den militärischen Erfolg gebracht hat: Er reißt seine Gefolgsleute einfach durch seinen emotionalen Einsatz mit. –Alexandrs Antonenko hat zwar ausreichende Stimmmittel für die Partie, aber den ganzen 1. Akt verschenkt er völlig. Dass ihn die Regie weißhäutig sein lässt, hilft ihm schon gar nicht. Die Außenseiterrolle inmitten der illustren venezianischen Gesellschaft auf Zypern, durch pompöse Renaissance-Kostüme des Chores noch unterstrichen, ergibt sich somit nicht von selber. Antonenko muss sich interpretatorisch mit Krafteinsatz begnügen, um den unglücklichen Verlauf des Geschehens fassbar zu machen. Er singt die Partie sehr respektabel, aber von der Klangfarbe her eindimensional. In den Szenen mit dem prächtigen Jago von Željko Lučić gewinnt er dann an Präsenz. Diese geeichte Verdi-Bariton versteht es, auf ganz unspektakuläre Weise, den „fangooriginario“ in sich wirken zu lassen. Mit seinen breit strömenden, wohltönenden, authentisch italienischen Legato-Bögen und prägnanter Textartikulation verführt und überwältigt er den leichtgläubigen Gegenspieler. Er ist gar nicht auf böse geschminkt, sondern wirkt eigentlich recht sympathisch. Mit leicht verzogenen Mundwinkeln oder einem dezidierten Seitenblick erreicht er die beabsichtige Wirkung. Großartig! Im Schwurduett sind die beiden Herren einander an stimmlicher Intensität ebenbürtig. Für die Wahrnehmung der mimischen Details ist die überdimensionale Filmleinwand ja gerade das Richtige.
Der nur im 1.Akt stimmlich noch nicht ganz ebenmäßig strömende Sopran der Sonya Yoncheva festigt sich dann, bewältigt tadellos die dramatischen Ausbrüche und die Führungsrolle in den großen Ensembles, ehe sie mit dem Lied von der Weide und dem Gebet alle Sympathien und Bewunderung auf sich zieht. Klar und hell, mit wahrer Engelsstimme singt sie innigst diese dankbaren Nummern. Wie die Sängerin im Pausengespräch erläuterte, sieht sie die Desdemona nicht als Opfer, sondern als schöne und starke Frau, eine selbstbewusste Venezianerin, die ihr Schicksal auf sich nimmt und zuletzt noch dem geliebten Mann verzeiht. Das hat die Sängerin großartig gestaltet.
Der fesche, schlanke junge Tenor Dimitri Pittas war zwar als Cassio mit sicherer Höhe gut hörbar, ist aber kein Belcanto-Verführer. Günther Groissböck beeindruckte mit authoritativem Auftreten und Einsatz seiner prächtigen Bassstimme als venezianischer Gesandter Lodovico. Die übrigen Solisten wurden im Kinoprogramm nicht genannt.
Die traditionelle Inszenierung von Bartlett Sher konzentrierte sich sichtlich auf die Führung der Solisten und ließ den Chor auch dort regungslos stehen, wo ihm etwas Bewegung, wie während des heftigen Sturmes zu Beginn der Oper, gutgetan hätte.
Das war dann eben nur Oper, nicht Musikdrama. Wirklich atemberaubend gelang der gesamte 4. Akt, vor allem auch durch die orchestrale Unterstützung mit bis zum fatalen Ende straff durchgehaltener Dauerspannung und wunderschönem, empfindungsstarkem Spiel aller Gruppen des Met-Orchesters.
Sieglinde Pfabigan