Saarbrücken:„DIE PIRATEN VON PENZANCE“ – Pr. 22.11. 2015
Eine Lektion in perfektem Nonsense
Verbrecher sind immer einen Schritt weiter! Stefan Röttig contra Andreas Mattersberger. Foto-Quelle: stage picture GmbH, Thomas Jauk
Alter schützt vor Entdeckungen nicht. Diese Erkenntnis wurde mir bei der Gilbert&Sullivan-Premiere zuteil. Das Saarländische Staatstheater brachte in einer prominenten Koproduktion mit der English National Opera London und den Théatres de la Ville de Luxembourg dieses in Deutschland kaum aufgeführte Stück heraus. Schon bei der Gattungsbezeichnung kommt man ins Stocken: Angekündigt als englische Operette, wird es im Programmheft von den Verantwortlichen unbeirrbar als komische Oper geführt. Da es für mich eine Neubegegnung war, brauchte ich einige Nummern zum Einhören, um es dann als englische Variante dessen zu entdecken, was Jacques Offenbach als Opéra bouffe in die Welt gesetzt hat: eine brillante musiktheatralische Show mit raffinierten Stilzitaten von Rossini, Verdi und eben Offenbach – und sicher manch anderem, der einem beim ersten Hören entgeht. Diese Zitate sind so souverän in den Fluss der Musik gestreut, dass der Hörer das Augenzwinkern des Komponisten zu sehen glaubt.
Dabei fing alles ganz anders an. Die Ouvertüre klang eher zäh als spritzig, und die ersten Szenen machten mit Klischees von einäugigen Seeräubern und albernen Backfischen einen eher schläfrigen Eindruck. Doch, wie so oft, erwies sich dieser Befund als voreilig. Das Stück wie die Regie brauchen eine Introduktion, die dem Folgenden als kontrastierende Folie dient. Prompt ging es dann Schlag auf Schlag. Aber worum?
Um nichts! Um einen trottelhaften jungen Mann, der von seinem Kindermädchen durch ein Missverständnis im Piratenmilieu aufgezogen wird und vertragsgemäß mit der Volljährigkeit diesem Milieu entfliehen will. Die Piraten treffen auf eine stattliche Schar hübscher Mädchen, die sie allesamt heiraten wollen. Weil sie aber die Töchter des strengen Generalmajors sind – und weil der tumbe Held an einem 29. Februar geboren ist, wodurch sich die Volljährigkeit um runde 60 Jahre verschiebt (!), gibt es reihenweise absurde Widerstände und Verwirrungen, bis sich am Ende alles in Wohlgefallen auflöst und jeder Topf seinen Deckel findet. Alberner geht es nicht. Man denkt automatisch an Rossinis irrwitzige Farce Il viaggio a Reims – und daran, was dieser Unsinn dem Italiener an spritziger Musik entlockt hat.
Nicht anders hier. Gilbert&Sullivan haben nichts ausgelassen, was Effekt macht, wie Mozart gern sagte. Immer wieder gibt es groteske Überraschungen, irrwitzige Kontraste und absurde Wendungen. Und die werden von den beiden leitenden Protagonisten der Produktion und ihren Partnern bravourös umgesetzt.
Am Pult erwies sich der frisch engagierte, noch junge Stefan Neubert als versierter Begleiter von Solisten und Chor, was bei den vielen Tempowechseln und rasanten Steigerungen nicht eben selbstverständlich ist. Das Staatsorchester folgte ihm hörbar engagiert. Es gab auch in heiklen Passagen keine Wackelkontakte. Die Feststellung, dass Chorleiter Jaume Miranda daran großen Anteil hatte, heißt inzwischen Eulen nach Athen tragen. Der Opernchor, der sich hier ständig mit den Solisten vermischen musste, entledigte sich der komplexen Aufgabe mit erstaunlicher Präzision – und mit sichtbarer Spielfreude.
Die Gesangssolisten waren sorgfältig ausgewählt, sodass ihnen ihre Rollen passten wie angegossen. Da die Partien überwiegend wenig Stimmaufwand erfordern, herrschte ein durchgehend homogenes Gesangsniveau. Es fiel auf, dass auch kleinere Rollen mit Sängern besetzt waren, die sonst eher in Hauptpartien zu hören sind – und dass sie sich, bei aller Spielfreude, nicht in den Vordergrund drängten. Eine großartige Ensembleleistung! Stellvertretend dafür seien genannt: Stefan Röttig als gutmütiger Piratenkönig, James Bobby als streitbarer Samuel, Andreas Mattersberger als plappernder Polizeisergeant und – vor allem – Tereza Andrasi als charmesprühende Edith.
Die Protagonisten wurden angeführt von der mit leuchtenden Spitzentönen und umtriebiger Spiellaune aufwartenden Herdís Anna Jónasdottir als umworbene Mabel und ihrem umwerfend komischen und tenoral schmachtenden Liebhaber Algirdas Devrinskas sowie der köstlich altjüngferlichen Ruth der Judith Braun. Die Krone des Ensembles gebührt aber Markus Jaursch, der in der dankbaren Rolle des Generalmajors ein plapperndes Feuerwerk an irrwitzigem Parlando perfekt ablieferte.
Dieses Niveau fällt nicht vom Himmel. Neben einer treffsicheren Auswahl bei der Besetzung war das mit Sicherheit das Verdienst der Regie. Und dafür hatte sich der prominente englische Filmregisseur Mike Leigh, im Nebenberuf intimer Kenner von Gilbert&Sullivan, zur Verfügung gestellt. Ihm gelang es, dieses geistreich schillernde, zwischen Oper, Operette, Musical und Musikkabarett angesiedelte Stück auf Anhieb einem deutschen Publikum so zu vermitteln, dass die Stimmung im Laufe der zweistündigen Aufführung immer entspannter und belustigter wurde und schließlich in Freude und Heiterkeit mündete. Und das, soweit sich dies beim ersten Kennenlernen beurteilen lässt, mit sparsamen Mitteln und ohne werkfremde Regie-Zutaten – nur mit Liebe zum Werk, unterfüttert mit profunder Kenntnis der Materie.
Über dieser Eloge für den Regisseur soll nicht vergessen werden, dass ihm kompetente Helfer zur Seite standen. Die vorwiegend choreographisch orientierte Personenführung ist in ihrer Perfektion nicht denkbar ohne die enorme Vorbereitung durch die akribische szenische Einstudierung durch Sara Tipple und die komödiantische Choreographie von Francesca Jaynes – ergänzt durch die zugleich sparsame und lebendige Ausstattung von Alison Chitty mit ihren stilisierten und doch sprechenden Bühnenbildern (die Bühne enthält nur, was auch gebraucht wird) – und die stimmungsvolle Lichtregie von Paul Pyant.
Was die Leistung aller Mitwirkenden auf der Bühne besonders unterstreicht: Es wurde englisch gesungen (und deutsch/französisch übertitelt), die Dialoge deutsch gesprochen (und französisch übertitelt). Vergessen hatte man nur, dass zur Premiere fast das gesamte Personal der English National Opera anreisen würde. (Aber die konnten die englische Übertitelung der Dialoge sicher entbehren, wie man ihren zufriedenen Minen im Pausenfoyer entnehmen konnte).
Eine nicht nur rundum gelungene, sondern eine glänzende Produktion, wie man sie sich etwas öfter wünschen würde – und dazu eine Bereicherung des schrumpfenden Repertoires auf deutschen Bühnen.
Johannes Schenke