MIT GANZEM HERZEN DER MUSIK GELAUSCHT
Eindrucksvolles Gastspiel von les ballets C de la B, Münchner Kammerspiele und NT Gent im Schauspielhaus am 15. Dezember 2015
Copyright: Chris van der Burght
Der belgische Choreograf Alain Platel verwendet bei seiner suggestiven Arbeit mit dem ballet C de la B in Zusammenarbeit mit den Münchner Kammerspielen und NT Gent ein Chorprojekt des polnischen Künstlers Artur Zmijewski mit Gehörlosen zu Kompositionen von Johann Sebastian Bach. Dies ist das eigentliche Ereignis dieser Produktion, denn die Tänzer Berengere Bodin, Elsie de Brauw, Lisi Estaras, Rosa McCormack, Elie Tass und Romeu Runa lauschen hier mit ganzen Herzen der Musik, man hört Bach gleichsam neu. Die Liedmelodie des berühmten „Air“ überrascht mit feinen Akkordeonklängen – und der ruhig schreitende, ostinatoartige Bass wird von der Formation genüsslich ausgekostet. Aus allen Poren der Körper spricht hier die Musik. Zuweilen hörte man sogar Italiens lichtdurchflutete Klänge heraus, wenn die Tänzer sich auf der über und über mit Kleidern bedeckten Bühne mit geradezu unglaublicher Gelenkigkeit und Nonchalance fortbewegen.
Elsie de Bauw. Copyright: Chris van der Burght
Das Tonmaterial scheint hier tänzerisch bis in die letzten Tiefen durchforscht zu werden, selbst der Atem der Protagonisten erhält rhythmische Strukturen, die sich immer mehr verdichten. Eine Frau bahnt sich dabei ihren mühsamen Weg durch einen ausweglosen Kleiderberg. Der Müll der Zivilisation scheint sie zu verfolgen. Elsie de Brauw mimt diese Frau sehr konzentriert, die gegen ihre Ausgrenzung durch die Gesellschaft immer wieder heftig rebelliert. Die Tänzer und Kollegen helfen ihr, schlagen wütend gegen die herunterhängenden Mikrofone, das gesamte Gerüst mit den Kleidungsstücken senkt sich auf die Bühne hinunter, die Welt scheint aus den Fugen zu geraten. Die Tänzer tauchen aus dem ungeheuren Kleiderchaos auch immer wieder auf. Im vermeintlich Hässlichen und Krankhaften offenbart Alain Platel so das Ungewöhnliche und Schöne. Die Tänzer entdecken gegenseitig ihre Körper, imitieren Krähengeräusche. In geheimnisvoller Weise hört man wiederholt eine Fliege summen.
Ein weiteres Motiv von Alain Platels ungewöhnlicher Arbeit ist der Film von Marcos Prado, der die an Schizophrenie leidende Brasilianerin Estamira und ihr trostloses Leben auf einer Müllhalde drastisch darstellt. So entstehen aus den Obsessionen der Protagonistin neue Willenskräfte. Es geht um den Erhalt der menschlichen Würde, die von Johann Sebastian Bachs genialer Musik in eindringlicher Weise unterstützt wird. Die Skala zwischen Schmerz, Freude, feierlichem Ernst und idyllischer Lieblichkeit wird voll ausgekostet. Die Tanzer wälzen sich zuweilen auch auf dem Boden, werden mit einem Schubkarren an die Rampe gefahren, vereinen gravitätisches Pathos und tänzerische Grazie, die sich stets verdichtet. Eine bilderreiche Klangwelt begleitet dabei die einzelnen Bewegungsmomente, die sich gleichsam mit der Unvergänglichkeit auseinandersetzen. Die überwältigende Gottesverkündigung wird in schweren Seelenkämpfen tänzerisch umgesetzt. Dabei erschließen sich auch mystische Tiefen des Glaubens. Galante Empfindsamkeit steht neben wütenden Ausbrüchen.
Es wird viel Englisch gesprochen: „Fire – burn it!“ Klamauk und Komik lassen ebenfalls nicht lange auf sich warten. Und die Tänzer ziehen kurzerhand einzelne Kleidungsstücke hervor, mit BH und Unterwäsche verwandelt man sich schnurstracks in einen ausgelassenen Harlekin. Virtuose Satzkunst und schlichte Natürlichkeit werden von der zugespitzten tänzerischen Dramatik ergänzt. Insbesondere Bachs kunstvolle thematische Verarbeitung können die Tänzer hervorragend umsetzen. Das Stück „tauberbach“ wurde im Mai 2014 zum Theatertreffen Berlin als eine der zehn besten Inszenierungen des Jahres eingeladen und vom Magazin „tanz – Zeitschrift für Ballett, Tanz und Performance“ zur „Produktion des Jahres“ gewählt. Im nicht voll besetzten Schauspielhaus erhielt diese ungewöhnliche Produktion vom Publikum jedenfalls tosenden Applaus.
Alexander Walther