Alle Fotos: Barbara Zeininger
WIEN / Theater in der Josefstadt:
ANATOL von Arthur Schnitzler
In einer Fassung von Peter Turrini und Herbert Föttinger
Premiere: 17. Dezember 2015
Eine kleine Überlegung zu Beginn. Als Arthur Schnitzler begann, sich einen jungen Wiener Lebemann auszudenken, nannte er ihn zuerst „Richard“. Wäre er als Richard je zu derselben Berühmtheit gelangt, die er dann als „Anatol“ erlangte? Den Namen kennt man aus „Krieg und Frieden“ (Anatol Kuragin), und er klingt nicht nur russisch, sondern auch ein wenig fremd, exotisch und vor allem mondän. Zweifellos – es musste „Anatol“ sein.
Um ihn rankt sich ein Zyklus von Einaktern, in denen nur sein Freund und Stichwortgeber Max eine fixe Größe ist, die Frauen hingegen wechseln – und durchaus einen Reigen der sozialen Spielarten des Weiblichen um die Jahrhunderte ergeben, vom „süßen Mädel“ bis zur mondänen verheirateten Frau, von der kleinen Näherin bis zur Zirkusreiterin. Diese Einakter haben ihre besonderen Qualitäten – Witz, Charme, Erotik, Melancholie, Poesie.
Üblicherweise gehören vier der Einakter fix zu jedem „Anatol“-Abend – Schwerpunkte sind die melancholischen „Weihnachtseinkäufe“ und das überschäumend lustige, freche „Abschiedssouper“. Meist dabei ist „Die Frage an das Schicksal“, wo Schnitzler eigene Versuche mit der Hypnose ironisch auf die Bühne brachte, und, meist als turbulentes Finale, „Anatols Hochzeitsmorgen“, wo klar wird, dass dieser Lebemann sich nie ändern wird – selbst wenn er heiraten sollte (was man sich auch nicht so recht vorstellen kann).
Rund um diese vier Einakter, die den „harten Kern“ jeder „Anatol“-Aufführung bilden (aus dem einfachen Grund, weil sie die besten sind), gibt es noch eine Reihe anderer, in denen natürlich verschiedene Damen ihre Rollen haben: „Episode“ (gelegentlich gespielt / Bianca); „Denksteine“ (sehr selten hervorgeholt, einst bei Boy Gobert in Hamburg / Emilie); „Agonie“ (auch kaum je gespielt / Else); „Anatols Größenwahn“ (der Epilog, einst bei Ernst Lothar in der legendären Burgtheater-Aufführung im Akademietheater / Berta, Annette); und schließlich fischte man das „Süße Mädel“ aus dem Nachlaß (1974 in der Akademietheater-Aufführung mit Michael Heltau als Anatol und Gertraud Jesserer als Fritzi uraufgeführt). Nach dem Ur-Anatol-Einakter, „Das Abenteuer seines Lebens“, hat nach dessen Uraufführung niemand mehr gegriffen.
Die Aufführung des Theaters in der Josefstadt, „in einer Fassung von Peter Turrini und Herbert Föttinger“, erweckt nun große Erwartungen. Sie führt nämlich sämtliche Damen aus allen verfügbaren „Anatol“-Einaktern am Besetzungszettel auf. Heißt das, dass sämtliche Stücke nun in irgendeiner Form (vermutlich brutal gekürzt – der Abend dauert nur zwei Stunden, die Pause eingerechnet) hier verarbeitet wurden? Mitnichten. Es sind nur die obligaten vier Stücke, stark gekürzt, mit einem bisschen „Süßen Mädel“. Dabei haben Turrini / Föttinger die Anatol/Max-Passagen von „Episode“ gewissermaßen als Rahmenhandlung konstruiert, und das passt eigentlich sehr gut: Denn darin bringt Anatol seinem Freund Max eine Schachtel voll von Erinnerungen an seine „Ehemaligen“ – und dass diese nun quasi als „Zug der Schatten“ erscheinen könnten, wäre durchaus einleuchtend. Bloß – die Damen sind nicht danach.
In einem Zeitsprung, der schwer zu argumentieren wäre (wenn sich heutige Regisseure mit Logik und Erklärungen abgäben), kommen die Damen nämlich aus der Zukunft, die sind strikt 21. Jahrhundert – schon die Fritzi (sexy im Unterhemd), die so laut ist wie sich ein echtes süßes Mädel kaum gebärdet hätte, aber dann volle Pulle: Die Cora, jeder Zoll keine kleine Näherin, sondern Auftritt in Unterwäsche, dann Minikleid und Stiefel; die gar nicht nach einem zierlichen Ballettmädchen aussehende Annie, Trainingsanzug und Pudelmütze (so ging und so geht man nicht ins Sacher) – und ordinär sind die beiden Weiber, nein, so etwas kommt einem Anatol nicht in die Nähe.
Aber dann, nach der Pause, Ilona! Im schwarzen Korsett unter der Anatol’schen Smokingjacke (die zieht sie auch noch aus, damit man die tadellose Figur der Darstellerin in aller Pracht begutachten lassen kann), im Ton eine strenge Herrin, die wahre Domina. Und Gabriele, die feine Dame? Die erste in Hosen, an die man sich erinnert, sehr chicer Mantel aus heutiger Boutique, sehr unliebendwürdiger Ton, kein Hauch von Zauber, Poesie, Trauer, bestenfalls die Süffisanz bis zur Bösartigkeit gesteigert.
Und die anderen Damen, die Versprochenen, die alle auf dem Programmzettel stehen? Ja, da gibt es vor der Pause einen unverhofften Hexensabbat, plötzlich ganz ins Rotlicht getaucht, und da kriechen die Damen daher (wenn sie nicht, wie die alte Berta, im Rollstuhl herumgefahren werden) und stoßen bedrohliche Wortfetzen aus, von denen einige sicher nicht von Schnitzler sind („Reite mich! Gib mir die Sporen!“) – schließlich muss man ja was tun für sein Bearbeiterhonorar. So viel zu den übrigen Einaktern.
Bühnenbildner Walter Vogelweider hat Anatol und seine kruden Weiber in ein Ringstraßen-Nebenzimmer gestellt, wobei ein Lüster zu Boden gefallen ist und symbolträchtig dort liegt – vergangener Glanz, wobei es damals mitnichten elegant, sondern grob und primitiv zuging. Dabei erwecken Anatol und Max doch noch den Eindruck, dass sie einmal Herren – gewesen sind. Sie sind auch proper gekleidet (Kostüme: Alfred Mayerhofer), was man von den Damen kaum sagen kann.
Auf die Frage, warum er die Rollen so „alt“ besetzt hätte, meinte Regisseur / Bearbeiter Herbert Föttinger, weil Anatol auch in 300 Jahren (ach, Makropulos) nie ausreichend Zeit gefunden hätte, alle Frauen zu genießen, auf die er Lust hatte. Eine wacklige Erklärung, denn die ehrlichere Aussage wäre doch gewesen: Es war als Abend für Helmuth Lohner gedacht, für ihn wurde als adäquat alter Max Peter Matic engagiert, Lohner ist gestorben, Matic war da, das Konzept der „Rückschau“ der Alten wohl auch (ob die Herren da schon wussten, dass sie einen Blick in eine weibliche Horror-Zukunft tun würden?), also fand man eine nahe liegende, wenn auch nicht richtige Lösung. So exzellent Michael König – Typ: deutsche Eiche – bei Hauptmann auch war, Anatol vermag er nicht zu sein: König versucht Eleganz, Ironie und Sentimentalität zu spielen, so gut es ein guter Schauspieler zustande bringt, aber Schnitzlerisches bringt er nicht, kann er höchstens nachzumachen versuchen. Dass an seiner Seite einzig Peter Matic – und er auf verlorenem Posten – die Fahne des Dichters hoch zu halten sucht… es rettet nichts.
Martina Ebm als derbe Fritzi, Alma Hasun als brutal-ordinäre Cora und schließlich Katharina Strasser als wüst-marodierende Annie legen den Ton fest, den eine entschlossene Sandra Cervik als Ilona im zweiten Teil übernimmt. Direkt, vulgär, 21. Jahrhundert sie alle. Und Andrea Jonasson hatte wohl keine Chance, die Gabriele „richtig“ zu spielen. Die anderen? Wer da so im Rotlicht kreucht und fleucht, nimmt man als Individualität nicht wahr, eine davon soll Martina Stilp gewesen sein, das hätte jede Statistin geschafft.
Im Grunde kommt man sich selbst dumm vor, wenn man an diesem Abend eine Begegnung mit Arthur Schnitzler erwartet hat, denn der Zeitgeist, wie er hier in der Josefstadt tobt, konnte ihn gar nicht einladen.
Renate Wagner