Stuttgarter Ballett
„KYLIAN / VAN MANEN / CRANKO“ 16.12.2015 – mit Überraschungs-Debuts
Eine komplette Umbesetzung gegenüber der Wiederaufnahme-Premiere vom 27. Oktober ermöglichte jetzt viele Vergleiche in diesem überaus kurzweiligen gemischten Programm aus neoklassischen Meisterwerken. Das neue zwölfköpfige Ensemble in Jiri Kylians „VERGESSENES LAND“ bestand insgesamt aus nicht so vielen markanten Einzelleistungen, was bei diesem 20minütigen Werk nicht so ins Gewicht fällt, weil seine Basis-Stärke bereits im Zusammenwirken des hochatmosphärischen Bühnenraumes, einer wellenumtosten Küste, mit der eindringlich bannenden Musik von Benjamin Brittens „Sinfonia da Requiem“, besteht. Größter Blickfang in den anfangs und am Ende bei gebeugtem Knie wie Vogelwesen mit den Armen kreisenden und Flügel schlagenden Tänzern war auch jetzt das in schwarz gekleidete Paar, wobei Anna Osadcenko ein Maximum an Körperspannung aufbot, während ihr Partner Constantine Allen selbst expressiven Figuren noch eine sanft weiche Note verleiht. Elisa Badenes legte den virtuosesten Part mit links, sprich mit der von ihr gewohnten Selbstverständlichkeit hin, accompagniert von Pablo von Sternenfels, der von Mal zu Mal an der treffsicheren Kombination von Tempo und Präzision zulegt. Neben Robert Robinsons unvergleichlicher Charakter-Präsenz machte wiederum Marti Fernandez Paixa mit Charisma und bedeutungsvollem Ausdruck auf sich aufmerksam. Der erst in dieser Spielzeit ins Corps de ballet übernommene Spanier hat sich innerhalb kurzer Zeit in verschiedenen Solo-Partien eine Position erobert, die in ihm den nächsten männlichen Aufsteiger wittern lässt.
Die beiden neuen Paare in Hans van Manens „VARIATIONS FOR TWO COUPLES“ hatten es nach den Ideal-Besetzungen vom Oktober schwer, mit der gleichen Dichte aus kühler Sachlichkeit und verborgener Erotik zu reussieren. Elisa Badenes und Daniel Camargo gelang es noch eher, in einer Mischung aus Anspannung und Lässigkeit eine Linie zu finden. Myriam Simon und Roman Novitzky kamen zumindest jetzt noch nicht über eine ordnungsgemäße Wiedergabe der typisch anspielungsreichen Choreographie des Holländers hinaus, erstere wurde in ihrer sonst so auffallenden Leuchtkraft evtl. durch die eher blasse Ausstrahlung ihres Partners und eine noch der Optimierung bedürfende Führung eingeschränkt. Zu wechselnden Musik-Beispielen stießen diese teils ironisch gebrochenen Paar-Varianten in der geometrischen Verbindung mit der aus geschwungenen Lichtstäben bestehenden Bühne wiederum auf angeregte Begeisterung. Erwartungsgemäß steigerte sich diese beim folgenden „SOLO“ ins Enthusiastische. Das in irrsinnig schnellem Tempo zu Violin-Solo-Partiten von Bach abspulende Stück für drei gleichwertig eingesetzte Tänzer, die sich konditionell bedingt im Prinzip die Aufgabe eines Einzelnen teilen, erzielt unweigerlich einen unwiderstehlich mitreißenden Sog. Den vielen kleinteiligen, zu einem Großen Ganzen zusammengefügten Bewegungs-Motiven, einerseits eckig, andererseits fließend leicht, werden auch die drei Neuen auf hohem Niveau gerecht. Ggf. zugeteilte Präferenzen obliegen der jeweiligen Empfindung. Dass der bislang noch am wenigsten hervorgetretene Adam Russell-Jones als Gruppentänzer mit einer natürlichen Kombination aus schnittiger Exaktheit und lockerer Note am meisten reussiert, freut dabei ganz besonders – ohne deshalb Constantine Allens auch in betonten Konturen noch geschmeidig bleibende Linie und Robert Robinsons unnachahmliches Zusammenwirken aus Gelassenheit und Humor schmälern oder hintan stellen zu wollen.
Sich in Jürgen Roses jedes Mal aufs Neue faszinierender Jugendstil-Ausstattung für Crankos „POÈME DE L’EXTASE“, die ein ausstrahlungsstarkes Personal verlangt, zu behaupten, hatten Myriam Simon und Constantine Allen diesbezüglich keine Mühe. Sie verkörpert in ihrer attraktiven Erscheinung, stets wohldosierten geschmackvollen Gestaltung und schwebend schöner Linie eine rollegemäß alle Blicke auf sich ziehende Diva mit mondänem, aber nicht überheblich maniriertem Anstrich und ist damit genauso eine Augenweide wie ihr warmer Latin Lover-Partner mit Präsenz und hinreichend bekundeter Zuneigung als anbetender Jüngling. Dass er im tänzerischen Abheben etwas müde wirkte, mag der dreifachen Beanspruchung an diesem Abend geschuldet sein.
Wie anspruchsvoll Cranko die Visionen der vier ehemaligen Diven-Verehrer konzipiert hatte, zeigte das fast komplett neue Quartett mehr als es einer einheitlich alle Schwierigkeiten wegsteckenden Umsetzung gut tut. Natürlich machten sie alle in ihren knappen Slips und wehenden bunten Umhängen eine gute Figur, eine unausgewogene Bewältigung ihres Schrittmaterials konnten sie indes nicht verbergen. Bei Pablo von Sternenfels und Robert Robinson stimmten die Zündkraft der Sprünge und eigenständiges Charisma am meisten überein. Alexander McGowan zeigt als solistisch noch wenig erfahrener Gruppentänzer gute Ansätze auf dem Weg zu einem solchen Ausgleich zu finden. Beim neuen Ersten Solisten Roman Novitzky stimmt es traurig, dass er nach einer langen Verletzungspause noch nicht zu seiner vormaligen Form gefunden hat. Das wäre bei seiner eher verhaltenen Bühnenpersönlichkeit unbedingt notwendig.
Zum Glück vermag Alexander Skrjabins berauschende Musik solche Mankos ein Stück weit zu kompensieren Das Staatsorchester Stuttgart unter der gewohnt antreibenden Leitung von Wolfgang Heinz blieb hier wie auch bei den anderen überwiegend gehaltvollen musikalischen Komponenten des Programms nichts an Intensität und klanglicher Dichte schuldig.
Udo Klebes