BAD WILDBAD / Rossini-Festival: GUILLAUME TELL am 16.7.2013 (Werner Häußner)
Foto: Patrick Pfeiffer
Zum 25. Mal wird in diesem Jahr in Bad Wildbad Kostbares und Vergessenes von Gioachino Rossini auf die Bühne gebracht. Der Meister weilte einst selbst an den Ufern der munter sprudelnden Enz: 1856 begann er hier eine Tour durch deutsche Bäder, um Nervenleiden und Schlaflosigkeit zu bekämpfen, eine „gewisse Linderung“ durch die berühmtesten Wässer Deutschlands zu erlangen.
1989 nahmen ein paar begeisterte Bürger diesen Besuch zum Anlass, in Bad Wildbad mit „La Scala di Seta“ ein erstes Rossini Öperchen aufführen zu lassen. Mittlerweile hat das Festival bedeutende Schätze des „Schwans von Pesaro“ gehoben, Werke seiner Zeitgenossen ausgegraben und Rossini auch in die musikalische Moderne geholt – etwa in diesem Jahr mit einem Konzert mit Helmut
Lachenmann. Und das alles mit einem Etat von weniger als einer halben Million Euro. Der seit 1991 amtierende Intendant Jochen
Schönleber sagt es treffend: „Wir arbeiten mit der Portokasse von Salzburg“.
Ein lange erwogenes und vorbereitetes Projekt krönt nun die Serie der Entdeckungen in Bad Wildbad. Die Tat wäre eines großen Staatstheaters wert gewesen, gewagt hat sie das kleine Festival im nördlichen Schwarzwald. Zum Jubiläum gibt es „Guillaume Tell“, die 1829 in Paris uraufgeführte letzte Oper Rossinis. Aber nicht in den sonst üblichen Strichfassungen – das wäre ja keine „Entdeckung“ –, sondern in einer wohl bisher nirgends gehörten Länge: Basierend auf der kritischen Edition von Elizabeth C. Bartlet der Fondazione Rossini Pesaro haben Schönleber und sein Team alle Striche wieder geöffnet. Nicht nur die nach der Premiere weggekürzten Stücke erklingen, sondern auch die Teile der Musik, die Rossini vor der Uraufführung gestrichen hatte. Ein Werk während der Bühnen- und Orchesterproben auf diese Weise einzurichten, um eine möglichst wirkungsvolle Premiere zu erreichen, war an der Opéra gängige Praxis.
Der ganze „Tell“ also sollte es sein: Vier Stunden und zwanzig Minuten reine Musik, dazu zwei kurze und eine lange Pause – ein Abend von Bayreuther Länge. Aber was für Wagner gut ist, kann ohne Einschränkung für Rossini als billig gelten: Endlich einmal hört man nicht die durchlöcherten musikalischen Formen üblicher Strichfassungen, endlich kommt Rossinis subtile Kunst der Ensembles, der groß geschlagenen musikalischen Bögen, der spannungsvollen Entwicklung zum Tragen.
Das Ergebnis langweilt keine Minute. Die Musik trägt auch dort, wo die dramatische Aktion zum Stillstand kommt. Die Überraschung ist: Es gibt kaum schwache Stellen; lediglich Teile der Ballettmusik und ein ziemlich konventionell gestricktes Quintett im dritten Akt lassen spüren, dass die Inspiration Rossinis auch schwache Momente gekannt hat.
Foto: Patrick Pfeiffer
Dass sich in solchen Augenblicken kein Durchhänger einstellt, ist sicher auch der energischen, konzentrierten, idiomatisch überlegten Wiedergabe der Musik durch den Dirigenten Antonino Fogliani zu verdanken. Seit er 2004 „Ciro in Babilonia“ geleitet hatte, gehört Fogliani zum „Stamm“ in Bad Wildbad, hat zahlreiche wichtige Premieren verantwortet, die auf CD nachzuhören sind.
Der „Tell“ krönt auch seine Arbeit mit Rossini: Fogliani findet zur Freiheit des pulsierenden Metrums, ohne die Präzision zu opfern, begleitet die Sänger achtsam, ohne die bedeutende Rolle des Orchesters – die bewährten Virtuosi Brunensis – zu schmälern.
Rossinis Musik atmet Freiheit und Lockerheit, klingt diskret emotional in den berührend persönlichen Szenen Tells, Arnolds und Mathildes oder Hedwigs. Sie findet auch den martialischen Gestus für die Schergen Geslers, die plakative Banalität der berüchtigten Galopade der Ouvertüre, das visionäre Erblühen der Freiheits-Apotheose im Finale. Nur hin und wieder könnte Fogliani noch eine
Idee lockerer lassen, um der Melodik Rossinis ein freies Ausströmen zu gewähren.
Eine respektable Leistung bieten die Orchestermusiker aus Brünn: reaktionssicher, klangschön, konzentriert bis zum Schluss. Der Camerata Bach Chor Poznan, den Ania Michalak einstudiert hat, lässt sich in den riesigen Tableaus nicht aus dem Tritt bringen, singt genau und ausdrucksstark. Wenn im einen oder anderen Fall die Qualität des Klangs etwas nachlässt, wen wundert’s? Diese Partien sind selbst für Ensembles vom Rang des Wiener Staatsopernchors eine Herausforderung.
Wer Rossini aufführen will, braucht brillante Sänger. Es gehört zur geschickten Leitung Schönlebers, in Bad Wildbad ein Zentrum des Belcanto aufgebaut zu haben, das in Deutschland wohl seinesgleichen sucht. Die Sänger schätzen die familiäre Atmosphäre in dem Kurstädtchen, kommen gerne wieder, weil sie konzentriert an der Musik arbeiten können. Viele haben sich im Schwarzwald die Impulse für eine internationale Karriere geholt; andere wie der Tenor Michael Spyres kommen zurück, obwohl sie längst in Berlin, London, Mailand, Paris oder Salzburg singen.
Der Amerikaner, der u.a. in Wien studiert hat, war 2007 erstmals in Wildbad zu hören und kehrte nun in der gefürchteten Partie des Arnold zurück. Nicht nur in der Arie „Asile héréditaire“ erwies sich der sichere Sitz seiner Stimme, die weitgehende Ausgeglichenheit der Tonbildung, die Fähigkeit, auch die Höhen in die Linie einzubinden. In der Stretta beschränkte er sich jedoch darauf, die Spitzentöne nur anzutippen. Überzeugend dargestellt ist auch der innere Konflikt Arnolds: Die Liebe zur Habsburgerin Mathilde lässt ihn dazu neigen, sich mit den Besatzern zu arrangieren, bis er die Nachricht vom gewaltsamen Tod seines Vaters erhält. Spyres kann glaubhaft machen, wie sich der pragmatische, am privaten Glück hängende junge Mann wandelt, wie er sich selbst zum verzichtenden Heros stilisiert, der Mathilde entschlossen zurückweist.
Auch die Prinzessin macht im Stück eine Wandlung durch: Anfangs könnte man sie für ein Girlie halten, das mit künstlich blonder Frisur und kitschigem Glitzerkostüm (Claudia Möbius) politisch ahnungslos in den gärenden Konflikt zwischen Schweizern und Habsburgern stolpert. „Sombre forêt“ ist noch ein schwärmerisches Bild der sternenüberwölbten Natur, die sie mit dem „einfachen Landbewohner“ bevölkert sieht; später öffnen ihr die Empathie für Leid und die Brutalität Geslers die Augen: empört verlässt sie das Fest im dritten Akt, als Soldaten die Schweizer Mädchen zu anzüglichen Tänzen zwingen. Im Finale hängt nur noch ein Fetzen ihrer Gala-Robe über Kampfhose und Stiefeln: Mathilde hat den Ort gefunden, an dem sie stehen will.
Die ungekürzte Fassung der Oper lässt den Charakter Mathildes deutlicher zutage treten – und Judith Howarths kühler Stimmglanz passt zur solidarischen Genossin der Freiheitskämpfer besser als zum sanft-verliebten Prinzesschen. Ein fester Sitz gibt ihrem Sopran Strahlkraft, lässt die Töne manchmal aber nicht frei genug strömen. Koloratur- und Höhensicherheit sind für diese gewinnende Bühnenerscheinung kein Problem.
Auch die Figur des Guillaume Tell profitiert von den geöffneten Strichen. Andrew Foster-Williams kann nicht nur einen kraftvollen, klangprächtigen Bariton zeigen, wenn er sich als fanatischer Kämpfer für die „Sache“ geriert, der sogar „Sex vor der Befreiung“ verbieten will, damit die Schweizerinnen keine Sklaven gebären müssen. Seine Arie kurz vor dem „Apfelschuss“ zögert zwar den dramatischen Kulminationspunkt hinaus, ist aber ein bewegendes Seelengemälde eines Mannes, der vor der zynischen Brutalität von Geslers sadistischem Gebot seelisch beinahe zerbricht. Auch Tara Stafford als Jemmy hat eine psychologisch wichtige Arie, die sie mit feiner, leichter, beweglicher Stimme singt: Die Rolle des vorpubertären Buben, der mit kindlicher Radikalität den Ideen des Freiheitskampfes folgt – später fackelt er sogar das eigene Vaterhaus ohne Zögern dafür ab – verkörpert die Amerikanerin im modischen Teenie-Outfit überzeugend.
Das hohe vokale Niveau dieses Jubiläums-„Tell“ war auch in den kleineren Rollen gesichert: Nahuel di Pierro war als alter Melcthal wie als Walter Furst ein würdiger Vertreter des seines Fachs zwischen basso profondo und basso cantante. Giulio Pelligra hatte die passend grelle Stimme für den Kommandeur der Soldateska des Landvogts. Alessandra Volpe verkörperte Tells Frau Hedwige anfangs so kokett, als sei sie dem Zigeunerlager Carmens entschlüpft, fand aber im vierten Akt zu Würde und Ruhe – die bei kontrolliertem Vibrato auch ihren Alt auszeichnet. Marco Filippo Romano ließ auch in den kleinen Rollen des Jägers und des Schäfers das Niveau nicht sinken. Und mit Artavazd Sargsyan hatte Wildbad einen stimmschönen Fischer, der noch ein wenig auf Sicherheit singt, aber vielversprechendes Timbre und leuchtende Höhe mitbringt. Nur der Gesler von Raffaele Facciolà fiel mit seinem zu weit hinten sitzenden, die Töne schwammig bildenden Bassbariton gegen das Ensemble ab.
Eine große, auf spektakuläre Überwältigung hin konzipierte Oper auf einer von jeder Bühnentechnik unberührten Spielfläche wie der in der Trinkhalle Bad Wildbad szenisch umzusetzen, ist an sich schon eine höchst achtbare Leistung. Der regieführende Intendant Jochen Schönleber kann darüber hinaus mit einem unaufdringlich modernisierendem Konzept punkten. Robert Schrags Bühne gibt ihm wenigstens Raumtiefe und mit Galerien an den Seiten eine zusätzliche Spielebene, deutet mit gezackten grauen Flächen eine Bergsilhouette an, hinter der in der Ferne der Sternenhimmel flimmert, wenn die Schweizer ihre gewonnene Freiheit preisen.
Das Volk steckt in einfachen Alltagskostümen – als wären die Darsteller noch vor der Kostümprobe direkt in die Premiere gesprungen. Das bezaubernde Adagio der Ouvertüre müssen zwei Cellisten vor der politischen Führungsriege vortragen, die auf rotem Polster sitzt; die „einfachen“ Leute und das Militär hocken dagegen auf billigen Massenware-Plastikstühlen. Schönleber will damit auf das Sarajewo Memorial anspielen, wie er im Programmheft verrät: Dort stehen diese Stühle für die Toten des Krieges.
In der Gewittermusik zeigt Schönleber den Gegensatz von privater Idylle und aggressiver Realität, wenn er die rollenden Pauken und Posaunenkaskaden Rossinis als Bild des inneren Aufruhrs in den Seelen der Schweizer deutet. Dem Chor bleiben in der Enge der Bühne kaum mehr Möglichkeiten, als en bloc zu stehen. Aber in den Ballettszenen klappt die Interaktion der treffend charakterisierenden Tänzer mit den Chorsängern bestens: Die Eskalation der Gewalt und die Entwürdigung der Menschen wird in einem ausdrucksstarken Tableau gezeigt.
Rossinis „Guillaume Tell“ wurde in Bad Wildbad in seiner überwältigenden Großform und seinen reichen musikalischen Facetten als Höhepunkt der Opernkunst Rossinis und als Meilenstein europäischen Musiktheaters greifbar. Jetzt darf man gespannt sein, wie ein Goliath wie die Münchner Staatsoper auf diese Herausforderung durch den Wildbader David reagiert, wenn dort „Guillaume Tell“ zu den Opernfestspielen 2014 neu inszeniert wird. Wer sich musikalisch verantwortlich mit Rossini befassen will, wird hinter die Wildbader Ergebnisse nicht mehr zurück können.