St. Petersburg: Ein Wochenende am Mariinsky-Theater – Eugen Onegin (2.5.) / Die Zauberflöte (3.5.)
Valery Gergiev, zu Hause in St. Petersburg allmächtiger „Zar“ des Mariinsky-Theaters, im Westen zur Zeit wegen seiner Putin-Unterstützung stark unter Beschuss, war unterwegs. Mit „seinem“ Orchester, also den Spitzenmusikern des Theaters, war er im Rahmen seines Moskauer Oster-Festivals auf Tournee: in 25 Tagen wurden 43 Konzerte gegeben (!), von Kaliningrad bis Wladiwostok. Wenn man nicht gerade das Flugzeug benutzte, war man mit einem eigenen Zug unterwegs, in dem es sogar einen Wagen gab, in dem die Musiker proben konnten. Sightseeing mit dem Mariinsky!
Und obwohl das Orchester in der Stärke von Strauss‘ Heldenleben auf Tour war, war das Mariinsky in dieser Zeit nicht verwaist. An dem von mir besuchten Wochenende erlaubte man sich den Luxus, alle drei Spielstätten gleichzeitig in Gebrauch zu haben: im historischen Theater gab es Ballett bzw. Oper („Ruslan und Liudmila“), auf der neuen Bühne „Eugen Onegin“ bzw. Ballett sowie in der auch für szenische Aufführungen genutzten Konzerthalle „Die Zauberflöte“ (in russischer Sprache). Allein aus dieser Tatsache kann man ablesen, welch großen Bedarf das Opernhaus an Musikern, Solisten, Chor und Personal hat. Deshalb ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass sich das Mariinsky offensichtlich in einer Art Umbruch befindet. War es in der Vergangenheit ein Leichtes, das Repertoire aus dem eigenen Ensemble (auf dem Papier mehr als 100 Mitglieder!) zu bestreiten, muss man jetzt mehr und mehr dazu übergehen, in anderen Theatern zu „wildern“ und Gäste (viele aus dem ehemaligen Sowjetreich) zu verpflichten. Dank Gergievs wohl geknüpftem Netzwerk (zwei seiner ehemaligen Assistenten stehen jetzt dem Moskauer Bolshoi- bzw. dem St. Petersburger Mikhailovsky-Theater voran) scheint dieses System zu funktionieren, und es ist derzeit kein Qualitätsverlust zu beobachten. Dadurch wird auch das Problem aufgefangen, dass die von Gergievs Schwester Larissa Gergieva geleitete Akademie für Junge Sänger, die bisher für potenten und potentiellen Nachwuchs gesorgt hatte, seit einiger Zeit dieser Aufgabe nicht mehr nachzukommen scheint. Schade, denn 50 % des Ensembles entstammen der Akademie, um mit Alexei Markov, Ildar Abdrazakov und Mikhail Petrenko nur drei der erfolgreichsten Absolventen zu nennen.
Foto: Sune Manninen
Am 2. Mai 2014, also genau ein Jahr nach der feierlichen Eröffnung der neuen Bühne (Mariinsky II) gab es „Eugen Onegin“, eine Co-Produktion mit dem National Centre for Performing Arts in Peking, die erst im Februar Premiere hatte. Damit erlaubt sich das Mariinsky den Luxus, gleich zwei verschiedenen Inszenierungen derselben Oper im Repertoire zu haben, im historischen Haus die Produktion von Gergievs dirigierendem Vorgänger Yuri Temirkanov aus dem Jahr 1982 und im Neuen Haus die neue des Teams ALEXEI STEPANIUK (Regie) und ALEXANDER ORLOV (Bühnenbild), und wenn mein Gedächtnis mich nicht täuscht, gab es vor ca. 7 Jahren eine weitere, inzwischen von Gergiev „entsorgte“. Was bei einem westlichen Opernhaus ein Fall für den Rechnungshof wäre, gehört hier zur Normalität, dass nämlich Inszenierungen im Ausland ausprobiert (z.B. Philippe Arlauds „La Traviata“ in Baden-Baden) und bei Nichtgefallen gar nicht erst übernommen oder später ausgetauscht werden. Für Anna Netrebko wurde Laurent Pellys „L’elisir d’amore“-Produktion eingekauft, die sich als derart unpraktikabel erwies (im alten Haus mussten die Dekorationen per Hand umgebaut werden, so dass es in dieser Kurz-Oper ermüdend lange Pausen gab). Heute gibt es diese Oper in der Konzerthalle, selbstredend in anderer Inszenierung. Gergiev übernahm Berlioz‘ Mammutwerk „Les Troyens“ (eine seiner Lieblingsopern) in der futuristischen Version von Fura dels baus aus Valencia, wo er sie dirigiert hatte – eine Oper, wie gemacht für die technischen Möglichkeiten der neuen Bühne. Aber: Aus welchen Gründen auch immer ist noch für diese Saison eine Neuinszenierung geplant.
Vor noch gar nicht langer Zeit erregte an der St. Petersburger Konkurrenzbühne, dem Mikhailovsky-Theaters, eine „Eugen Onegin“-Inszenierung die Öffentlichkeit. Der renommierte und umstrittene Schauspielregisseur Andriy Zholdak hatte seine Assoziationen zur Pushkin/Tschaikowksy-Vorlage in einer Art und Weise umgesetzt, die mich die Vorstellung beim Gastspiel dieses Opernhauses beim Opernfestival von Savonlinna vorzeitig verlassen ließ, da ich nicht gewillt war, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was (nur ein Beispiel unter vielen) ein Zwerg im Kühlschrank von Tatjana mit dem Stück zu tun hatte. Nun, diese Produktion ist gerade in Moskau bei einem Theaterwettbewerb mit der begehrten „Goldenen Maske“ prämiert worden, ein Erfolg, der der Mariinsky-Inszenierung mit Sicherheit verwehrt werden wird. Auch in Deutschland, so fürchte ich, würde Stepaniuks Umsetzung von einem von Regietheater-Anhängern durchsetzten Feuilleton verrissen oder zumindest belächelt werden. Stattdessen würde sie denjenigen Opernfreunden gefallen, die sich zurücklehnen, genießen und mehr darüber nachdenken wollen, was der Komponist und nicht der Regisseur beabsichtigt hat. Angesichts dessen, was ich sah, fühlte ich mich an einen Ausspruch Marcel Prawys erinnert, für den (ich hoffe, ich zitiere richtig) eine Inszenierung gut war, wenn sie schön und richtig war. Nun, über das, was beim Onegin „richtig“ ist, wird man trefflich streiten können, aber zweifellos war diese visuellen Umsetzung (Kostüme: IRINA CHEREDNIKOVA) „schön“. Stepaniuk hielt sich weitgehend eng an die Stückvorlage und führte die Personen liebevoll-detailliert, ohne sie zu desavouieren, von der schwärmerischen Tatjana über die unbeschwerte Olga, den weltfremden Poeten Lensky, den blasierten Titelhelden bis hin zu den Randfiguren wie den seine Angst nicht im Zaum halten könnenden Monsieur Guillot – alle klar konturierte Figuren. Wenn ich leichte Kritik zu äußern hätte, dann am Ball Larinas, bei dem der Regisseur in Otto Schenk’scher Manier des Guten zu viel tat (jedenfalls nach meiner Meinung), indem er viele der Karikatur nahe stehende Typen schuf (nicht zuletzt den ziemlich überzeichneten Triquet). Nachvollziehbar war jedoch die Idee, die dahinter zu stehen schien, die ländliche Gesellschaft deutlich von dem sich wie in einem Korsett befindenden St. Petersburger Adel abzuheben. Den „Trick“, ganze Szenen oder zumindest Teile von ihnen vor dem Vorhang spielen zu lassen, empfand ich als mehr als nur eine Lösung, einen schnellen Szenenwechsel zu ermöglichen; die Konzentration auf das Wesentliche wurde dadurch nicht abgelenkt, so z.B. bei der Schlußszene, bei der sich erst nach den letzten Worten Onegins der Vorhang öffnete – nach der Idylle des 1. Bildes jetzt eine eher wehmütige Landschaft.
Die erste Aufführung der Tschaikowsky-Oper fand durch Schüler des Moskauer Konservatoriums statt. Insofern war es eine sehr gute Idee, diese Produktion dort mit jungen Kräften zu besetzen, wo es rollengemäß angebracht war. Kompliment an das Theater, eine (mit einer Ausnahme) hervorragende Besetzung gefunden zu haben. So wie die junge GELENA GASKAROVA spielte, war sie der Traum einer Tatjana, die die Entwicklung vom schwärmerischen jungen Mädchen über die erwachende Liebe bis zu deren Zurückweisung überzeugend umsetzte. Dem entsprach vollkommen die vokale Leistung. Mit ihrem jung klingenden, apart timbrierten Sopran gab sie alle Gefühlsregungen ihrer Partie wider. Erst als Fürstin Gremina stieß sie mit ihrem gut fokussierten, aber nicht sehr voluminösen Material an Grenzen, ohne diese allerdings zu überschreiten. Auch IRINA SHISHKOVA gelang eine Idealverkörperung der Olga, wie sie man in Russland oft, im Westen aber selten erfährt. Die Sängerin sollte jung aussehen, aber die Stimme einer Altistin haben. Ûberspitzt ausgedrückt: Manche Sängerinnen im Westen, die die Stimme für die Olga haben, sehen aber aus wie Azucena, und wenn sie wie Olga aussehen, haben sie eine Stimme eher für Cherubino (ich bitte alle guten West-Olgas um Pardon!). Vom Mikhailovsky-Theater kam EVGENY AKHMEDOV, und seine exqusite Leistung machte deutlich, warum man den Lensky keinem Mariinsky-Tenor anvertraute: Einen Tenor, der eine herrliches Timbre mit Schmelz, Biegsamkeit und Höhenglanz vereint, gibt es derzeit hier nicht. In Abwesenheit von Andrei Bondarenko, der dieselbe Rolle in Glyndebourne probt, gab DMITRI LAVROV als Gast von der Deutschen Oper am Rhein ein überaus überzeugendes Gastspiel – ein exzellent geführter Kavaliersbariton, der auch in den wenigen Passagen, in denen mehr Volumen erforderlich ist, nicht überfordert wirkte. Dazu im Rahmen einer Partie, die von Tschaikowsky nicht mit eigener Musik bedacht wurde, eine gute Umsetzung des Dandys, der erst (zu) spät seine Liebe zu Tatjana entdeckt. Einziger Wermutstropfen in einer bis in die Randfiguren homogenen Besetzung war der Gremin – ASKAR ABDRAZAKOV, der mit seinem 7 Jahre jüngeren Bruder zwar die Physiognomie, aber leider nicht die Stimmqualität gemein hat. Trotz seines knarzenden Durchschnittsbasses mit Reibeisentimbre gab es für ihn großen Beifall.
Am Pult stand PAVEL SMELKOV, der von Gergiev häufig mit dessen Einstudierungen an der Met betraut wird und dafür diese leiten darf, wenn sein Chef bereits wieder zu „Neuen Taten“ geeilt ist. Um ehrlich zu sein, habe ich Smelkov bisher für einen braven, biederen Kapellmeister gehalten, dessen Schlagtechnik zwar deutlicher abzulesen als die seines Chefs ist, der sich aber bisher damit zufrieden gab, eine Aufführung ohne Unfälle über die Runden zu bringen. Also: ein guter, aber leider etwas ausstrahlungsarmer Dirigent. Nach diesem „Onegin“ muss ich meine bisherige Meinung revidieren. Ûber das reine Zusammenhalten von Bühne und Orchester hinaus, hatte seine Interpretation alles, was man von einem leidenschaftlichen Tschaikowsky erwartet.
Bei der „Zauberflöte“ am 3.5. 2014stand ein Dirigent am Pult, der erst in dieser Saison zum Mariinsky-Theater gestoßen ist und seitdem mit den Dirigaten von „Onegin“. „Nozze di Figaro“ und eben der „Zauberflöte“ betraut wurde. Und angesichts seines familiären Hintergrunds kämpfte ich mit mir, ob ich diesen hier in meiner Rezension ausbreiten sollte. Sein Name ist ZAURBEK GUGKAEV, er ist der Neffe einer am Mariinsky nicht ganz einflusslosen Person, nämlich Valery Gergievs. Der junge Mann stammt aus dem ossetischen Vladikavkaz (wo auch sein Onkel aufwuchs), studierte dort sowie am St. Petersburger Konservatorium bei Leonid Korchmar, der am Mariinsky zu der „Kollegium“ genannten Gruppe gehört, die Besetzungen für Gergiev zur Entscheidung vorbereitet. So wie es früher die Norm war, dass, wer bei Gergievs Lehrer Ilya Musin studiert hatte, eher die Chance bekam, hier am Theater zu dirigieren, scheint es heute mit Korchmar zu sein. Wie dem auch sei. Meine Skepsis, ob Zaurbek Gugkaev sein Dirigat nur der Protektion seines Onkels und seines Lehrers verdankte, verflogen rasch. Mein Sitzplatz erlaubte mir einen sehr guten Blick auf den Dirigenten, und was ich sah und hörte, überzeugte mich. Wie sein Onkel ohne Takstock (oder Zahnstocher, abgebrochenen Bleistift etc.) nur mit den Händen dirigierend, war sein Schlag trotzdem gut ablesbar und seine Interpretation von schöner Homogenität. Mit größerer Erfahrung wird er sich sicherlich noch mehr der Bühne (bei etwaigen Wackelkontakten) als bisher vorwiegend dem Orchester widmen. Trotz aller Bedenken: Seine Leistung verdient es, nicht mit dem Protektionsbonus (oder –malus?) bedacht zu werden.
Die „Zauberflöte“ in der Produktion des Franzosen ALAIN MARATRAT ist eine der meistgespielten Aufführungen, und es wird sofort deutlich, warum. Abgesehen von der Wahl der russischen Sprache, die ein besseres Verstehen des Sujets erleichtert, hat Maratrat die Vorlage leicht bearbeitet und ihr dadurch die Weihe, aber auch die Langatmigkeit genommen. Obwohl ich des Russischen nicht mächtig bin, ist diese Zauberflöte, die ich jetzt zum 5. Mal sah (!), eine der, wenn nicht sogar die kurzweiligste aller bisher gesehenen. Auch hier (bis auf eine Ausnahme, pikanterweise wieder im Bassfach) eine hervorragende Besetzung. OLGA PUDOVA, den Wienern durch ihre Teilnahme an der letzten Staatsopern-Zauberflöten-Premiere bekannt und dort mit gemischten Rezensionen bedacht, war eine exzellente Königin der Nacht, die alle Schwierigkeiten ihrer Partie mit stupender Sicherheit meisterte. LYUDMILA DUDINOVAs Timbre mag für die Pamina etwas zu gläsern sein, doch verdiente sie sich Respekt für die technische Bewältigung ihres Parts. ALEXANDER TIMCHENKO sang einen Tamino, mit dem er (gutes Deutsch vorausgesetzt) eigentlich überall im Westen reüssieren müsste. Edles Timbre, hohe Gesangskultur verbunden mit dem nötigen Höhenstrahl – aus diesem Holz sind gute Taminos gemacht! Dasselbe gilt für VIKTOR KOROTICHs – eine Charmebombe mit viel, aber passend zurück genommener Stimme (er singt sonst auch Posa!). ELEONORA VINDAU war seine Papagena mit einer Stimme, die durch ihr ganz apartes Timbre mit der so interessanten Rundung weit über das Fach der Soubrette hinausweist; die erst 27jährige Ukrainerin wird sehr vorsichtig aufgebaut und singt im (russischen) Figaro im Konzertsaal die Susanna, im (italienischen) Figaro im historischen Haus aber bereits die Contessa – sicherlich noch eine Grenzpartie, aber nicht nur dank ihrer an die junge Netrebko erinnernden Schönheit könnte Eleonora Vindau auch im Westen Karriere machen. Ihr Ehemann (Andrei Bondarenko) macht sie schon. Die schon erwähnte Ausnahme, leider wieder im Bassfach, war der Sarastro des Georgiers MIKHAIL KOLELISHVILI, angesichts dessen unruhig und ungepflegt dargebotenen Materials mir wieder einmal vor Augen geführt wurde, dass es hier im Moment ein Bassvakuum zu beklagen gibt. Sänger wie Aleksashkin, Bezzubenkov und Kit befinden sich (bei aller derzeitiger Qualität) bereits im Rentenalter, und Nachfolger sind noch nicht in Sicht.
Fazit: Gut für das Mariinsky-Theater, das der Besuch dieser ehrwürdigen Institution in einem ihrer drei Spielflächen (dazu kommen im Neuen Haus noch fünf Kammermusik-Säle) ein Muss für viele ausländische Touristen darstellt (deren Zahl auf Grund der Ukraine-Krise übrigens um 15-20 % zurückgegangen ist). Den Touristen ist es egal, was sie sehen. Hauptsache, es ist Mariinsky! Andernfalls muss man als Musikliebhaber eine gewisse Portion an Flexibilität einkalkulieren. Natürlich ist es positiv, dass im Internet veröffentliche Werke und Besetzungen mit den am jeweiligen Abend zu sehenden (meistens) übereinstimmen, doch im Normalfall wird der Spielplan erst einen Monat zuvor veröffentlicht. Das prestigereiche Festival Stars der Weißen Nächte beginnt am 28. Mai. Da Gergiev derzeit noch aushäusig ist, wird das Programm erst nach seiner Rückkehr am 11. Mai, also erst wenige Wochen vorher, bekannt gegeben!!! Russisches Roulette à la Mariinsky! Trotzdem : Dieses Wochenende bewies, dass am Mariinsky auch ohne Gergiev hohe Qualität geboten wird.
Sune Manninen