Berlin/ Staatsballett Berlin: BALANCHINE | FORSYTHE | SIEGAL in der Staatsoper, Premiere und Uraufführung, 04. Mai 2019
In dieser neuen Premiere des Staatsballetts Berlin werden alle bestens bedient: diejenigen, die das klassische Ballett lieben, und sie anderen, die Zeitgemäßes sehen wollen. Der Bogen spannt sich an diesem Abend von George Balanchine über William Forsythe bis zu Richard Siegal, einem der heutigen Star-Choreografen, der sogar eine Uraufführung fürs Staatsballett Berlin geschaffen hat.
„Wir wollen die Tradition in Ehren halten und sie zugleich in die heutige Zeit weiterführen.“ So drücken es die Intendantin Sasha Waltz und der Intendant Johannes Öhman aus. Das klingt beruhigend für die konservative Klientel.
Dass alle drei Choreografen auf den russischen Ballett-Traditionen aufbauen und später amerikanische Einflüsse integrieren, und dass sie alle, voneinander lernend, ihre eigenen Arbeiten schaffen, wird im Verlauf des Abends deutlich. Der Applaus, der den einzelnen Stücken folgt, zeigt jedoch genau, was vor allem die jüngere und mittlere Generation bevorzugt.
Maria Kochetkova, Daniil Simkin. Foto: Yan Revazov
Das erste Stück, Balanchines „Theme and Variations” von 1947, ist eine modernisierte Fortsetzung der Arbeiten seines Lehrers Marius Petipa, kombiniert mit raffinierter Raumeinteilung und geometrisch geprägtem Bewegungskanon, was auch der Compagnie viel Können und Konzentration abverlangt. Hierzu gibt es „echte“ Musik, Tschaikowskys „Suite für Orchester Nr. 3 G-Dur“, versiert gespielt von der Staatskapelle Berlin unter der Leitung des erfahrenen Ballettbegleiters Paul Connelly.
In hellblauen, frühlingshaften Edelkostümen (kreiert von Elsie Lindström) schweben die Tänzerinnen mitsamt der Ballerina und dem „primeur danseur“ über die Bühne. Maria Kochetkova als Gast und Daniil Simkin bilden ein exzellentes Solistenpaar. Schon für die Premiere von „La Sylphide“ hatte man sie für Simkin, den neuen 1. Solisten beim Staatsballett Berlin – zuvor beim American Ballet Theatre – als Partnerin engagiert. Offenbar braucht er eine extrem kleine, leichtgewichtige Tänzerin an seiner Seite. Aus Verletzungsgründen sprang bei der Sylphide-Premiere der Berliner Kammertänzer Marian Walter für ihn ein.
Nun also sind, wie geplant, Maria Kochetkova und Daniil Simkin tatsächlich als Premierenbesetzung zu erleben und machen das vorzüglich. Sie sehr wendig, federleicht auf flinken Beinen und immer mit einem Lächeln im Gesicht.
Geschmeidig und variantenreich absolviert Simkin seinen Part, glänzt mit zahlreichen Sprüngen und genau wie sie mit einer Fülle gelungener Pirouetten. Zum Walzertakt tanzen beide einen schönen Pas de deux, mit einem Arm schwingt Simkin die Zierliche um sich herum. Perfekte Technik, romantische Musik, alles wirkt leicht und flüssig, doch sein Gesicht bleibt unbeweglich. Die totale Konzentration fordert womöglich ihren Tribut.
Anders die Damen der Compagnie, die ebenfalls ein anspruchsvolles Bewegungsritual meistern mussten und es – nach der Duato-Lethargie – nun dank Johannes Öhman – mit Spaß und neuer Frische absolvieren. Heftiger Beifall nach diesem Frühlingsmärchen.
„The second detail“. Foto: Yan Revazov
Nach der Pause geht sogleich ein spürbarer Ruck durch den vollbesetzten großen Saal. Der zuckrigen Vorspeise folgt mit „The second detail“ von William Forsythe ein Hauptgang mit Biss, voll von krassen Kontrasten, ein Stück von 1991 und noch immer total heutig.
Die knallharte, rhythmisch pointierte Musik von Thom Willems dröhnt durch den Raum. Das grelle, auf die Bühne gerichtete Licht enthüllt fast alle Details der tanzenden Körper und bietet den Interpreten keinerlei Fluchtpunkte (Kostüme: Issey Miyake | Yumiko Takeshima).
Denn bei Forsythe – das war das Neue – zeigen sich die Tänzerinnen und Tänzer dem Publikum nicht wie beim Klassischen Ballett nur von vorne und bestenfalls von der Seite. Hier drehen sie sich in Gänze, kehren den Zuschauern oft auch den Rücken zu. Für die Tanzenden muss das damals nach einiger Eingewöhnung befreiend gewesen sein. Was 1991 einer Sensation gleich kam, ist bei zeitgenössischen Choreografien eine Selbstverständlichkeit.
Das Stück hatte bereits 2006 beim Staatsballett Berlin Premiere und kehrt nun in einer Neufassung zurück. Angeheizt von elektronischen Tonträgerklängen bieten die Tanzenden nun gekonnt ihren ganzen Körper dar. Zuletzt gesellt sich eine Frau im weißen kurzen Kleid – Jenna Fakhoury, auch ein Neuzugang – mitten unter die Männer und tanzt sich in ihrer Wildheit fast die Seele aus dem Leib. Sie feiert diese gewonnene Freiheit. Noch mehr als sie tobt dann der Saal. Brüllend und kreischend schreit sich das Publikum die Begeisterung von der Seele.
„Oval“. Foto: Yan Revazov
Anders die Uraufführung „Oval“, von Richard Siegal, geschaffen nach der Musik von Alva Noto (vom Tonträger). Die erschleicht sich eher unaufdringlich die Sympathie des Publikums. Unter einem hellen LED-Lichtreifen von Matthias Singer, der anfangs eher kreisförmig als oval wirkt, agieren die Tanzenden zunächst in ziemlicher Dunkelheit.
Mal verschwindet das Licht fast gänzlich, mal wird es stärker. Mal kippt das Oval und strahlt in Pink. Als es auf der Bühne insgesamt heller wird, gewinnen die Tänzerinnen und Tänzer in den sehr anliegenden, teils hautfarbenen, teils schwarzen und alles markierenden Kostümen (von Y Studio) Kontur.
Richard Siegal, 10 Jahre lang Tänzer bei der Forsythe Company, Gründer von The Bakery (im Jahr 2006) und Erfinder vom „Ballet of Difference“ (2016) geht eigene Wege. Das zeigte schon sein „Totales Tanztheater 360“, einer der Höhepunkte im Januar in Berlin beim Eröffnungs-Festival zu 100 Jahre Bauhaus. (Im September wird es auch in Dessau zur Eröffnung des dortigen Bauhaus-Museums zu sehen sein.)
Auf der heller werdenden Bühne herrschen nun Angriffslust und Partnerwechsel. Die Männer, einige im Ringer-Outfit mit nackter Brust, wollen und müssen sich hier beweisen, tun es mit teils abgezirkelten Bewegungen, um dann auch mal auszurasten.
Heftig agieren sie untereinander und auch gegenüber den Frauen. Die sind die treibende Kraft beim Partnerwechsel und suchen sich ungerührt den nächsten Mann. Die Pas de deux sind hier keine Liebeserklärung, sondern ruppige Annäherungen mit Fluchtpotenzial. Die 12 Damen und Herren tanzen sich in Ekstase und ziehen das Publikum zusammen mit der Licht- und Tonwirkung beinahe in einem außerirdischen Bann. Auch der anschließende Applaus sprengt erneut den gewohnten erdnahen Rahmen.
Ursula Wiegand
Weitere Termine am 6., 10., 11., 17., 18. und 24. Mai sowie am 4., 6., 19., 21. und 22. Juni.