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WIEN/ Theater an der Wien: RUSALKA – Das Plakat und der Aufdruck auf dem Billett verhießen »Rusalka«

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WIEN/ Theater an der Wien: RUSALKA am 26.9.2019

Das Plakat und der Aufdruck auf dem Billett verhießen »Rusalka«. Die Bühne: niemals. Die Musik: kaum. Willkommen in der Opernwelt des »deutschen Regie-Theaters«. Einer Welt, in welcher alles, was diese Kunstgattung groß machte, keinen Platz mehr zu haben scheint.

»Rusalka«, 1. Akt: Maria Bengtsson (Rusalka) und Ladislav Elgr (Der Prinz) © Theater an der Wien/Herwig Prammer
Maria Bengtsson (Rusalka), Ladislav Elgr (Prinz). Foto : Herwig Prammer/ Theater an der Wien

http://www.dermerker.com/index.cfm?objectid=5EACBA10-E167-11E9-9FB6005056A64872

Thomas Prochazka/www.dermerker.com


attitude – Ballet-Blog This week’s recommendations: September 27th, 2019

WIEN / Burgtheater: FAUST

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Fotos: Burgtheater / Matthias Horn

WIEN / Burgtheater:
FAUST von Johann Wolfgang Goethe
Eine Produktion des Residenztheaters München
Wiener Premiere: 27. September 2019

Wie hält man es mit Goethes „Faust“? Das ist wohl die Gretchenfrage für Regisseure von heute. Peter Stein hat zwei Tage gebraucht, um dem Monsterwerk der beiden Teile gerecht zu werden. Martin Kusej schafft schlicht und einfach „Faust“ in drei Stunden, allerdings ist es nicht der „Faust“, den man kennt. Und wenn man ihn nicht kennt – ja, dann wird man sich mit diesem Abend verdammt schwer tun. Denn dramaturgisch ist er schlicht und einfach „Goethe-Material“, geschüttelt und gerührt. Angela Obst und Albert Ostermaier (als Autor immerhin Goethe-Kollege) haben dieses Stückwerk-Mosaik gebastelt. Und da fehlt von „Habe nun, ach…“ bis „Verweile doch“ an Essentiellem gewaltig viel…

Mit dem Effekt, dass Kusejs Konzept schon von der Fassung her schwer bis gar nicht zu interpretieren ist. Sein Faust düst auf düsterer Bühne durch ein düsteres Schicksal. Hat keine Studierstube, nur eine Waschmuschel. Lebt in einer Welt, die aus Stahl besteht, aus Wellblech, Gittern, Treppe, auch ein Kran. Sehr heutig, sehr bedrohlich, aber darum geht es ja auch. Aleksandar Denić hat diesen eisernen Koloß auf die Drehbühne gestellt.

Wer ist Faust? Der Mann ist zu Beginn einfach schlecht gelaunt, weiß nichts mit sich anzufangen. Stolpert herum, und weil die Fassung es so will, begegnen ihm gleich am Anfang Philemon und Baucis, während er am Ende kurz reflektiert, was er ihnen angetan hat („Faust II“ ist an dem Abend eher minimal vertreten, nur dort, wo es um brutale Gewalt geht). Von einem stocksteifen Osterspaziergang ist man in Sekunden in Auerbachs Keller bei Techno-Musik. Ja, und die Pyrotechnik, die gehört dazu. Nicht oft, aber mehr als auf unseren Bühnen üblich,  gibt es Feuersbrünste und Lichtexplosionen, aber die verstören dann die Augen und das Gemüt.

Dass die Geschichte von Faust bei Martin Kusej auf Verstörung angelegt ist – daran kann es kein Zweifel geben. Sex spielt eine große Rolle (wenn Mephisto mit Marthe Stellungen probiert und er ihr mit dem Kopf unter den Rock fährt, wird auch der aufgeklärteste Betrachter kurz schlucken). Worauf läuft das hinaus? Liebe, Menschenglück? Nein, Faust nimmt sich nicht viel Mühe, Gretchen zu retten. Er gesellt sich willig zu Mephisto. Damit die beiden mit finalem Blick ins Publikum unisono feststellen, dass das Ganze eigentlich nicht viel gebracht hat. Nihilismus pur.

In Berlin, Hamburg und München mag man schon genug von Bibiana Beglau gesehen haben, um nicht mehr überrascht zu sein, für Wien ist sie noch immer ein schockierendes Theaterwunder, deren Mephisto weit über ihre Martha in Albees „Virginia Woolf“ hinausgeht. Ihr Exhibitionismus ist grenzenlos, die Verbiegungen ihres Körpers und ihrer Sprache (ob Tonhöhe, ob Brechen der Stimme, ob Ausdruck, ob schriller Effekt) sind ebenso verblüffend wie die Bereitwilligkeit zu jeder Obszönität. Wenn Mephisto als „Spottgeburt aus Dreck und Feuer“ bezeichnet wird, erinnert man sich nicht, dass je ein anderer Darsteller dieser Charakteristik so nahe gekommen wäre…

Werner Wölbern hat als Faust etwas – Durchschnittliches. Der große Intellektuelle, der zwischen Wissenschaft und Magie gefangen ist und nach dem wahren Leben lechzt, ist er nicht gerade, zumindest nicht nach dem deutschen Klischee. Aber gierig ist er, alles will er haben, und unangenehm ist er auch. Gretchen belästigt er auf den ersten Blick mit einem feuchten Kuss. Eklig. Und gerade darum ein sehr heutiger Typ. Deutsche Klassik? Schnecken. Schmierige Gegenwart.

Einzig Andrea Wenzl könnte – obwohl sie fast so weit gehen muss wie einst die Affolter als nacktes Gretchen bei Peymann – in einer „normalen“ Inszenierung das Gretchen sein. Rudimentär angelegt (was da gestrichen ist…), herb, aber ernsthaft, verliebt, traurig. Sie bekommt übrigens eine Mutter: Barbara Petritsch, die man zu Beginn als Baucis gesehen hat, übernimmt die Schimpftirade des Lieschens und bekommt darauf den Todestrank kredenzt, dann wettert sie noch als böser Geist. An ihrer Leiche wird Gretchens Flehen an die Schmerzensreiche zu fassungslosem Gestammel…

Sonst ist es nur noch Alexandra Henkel als blond gefärbte Frau Marthe im Mini-Rock, die durch ihre Bereitwilligkeit auffällt, ununterbrochen zügellosen Sex zu haben. Der Rest der Rollen zeigt kaum Profil, wenig der Wagner des Jörg Lichtenstein, fast keines der Valentin des Daniel Jesch. Ein großes Ensemble ist als Volk (Soldaten, Hexen als Huren, was immer) mannigfaltig beschäftigt. Auch sie alle tragen in den Allerweltskostümen von Heidi Hackl das Heute in Goethes Werk.

Wie faß ich Dich, unendliches Stück? War es nun wirklich der „Faust“ von „von Goethe“ (das Programmheft und der Theaterzettel verweigern ihm dieses „von“), oder war es nur Kusejs dunkler Blick, der sich wieder einmal eine Höllenfahrt ausgedacht hat, wild durch Textpassagen bretternd? Nun, wenn man wissen will, „wie Faust wirklich geht“, man kann das Werk ja auch lesen. Ganz sicher: Es lohnt sich.

Renate Wagner

WIEN / Staatsoper: SALOME von Richard Strauss

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Bildergebnis für wiener staatsoper camilla nylund salome
Camilla Nylund/ Salome. Foto: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

WIEN / Staatsoper: SALOME von Richard Strauss

239. Aufführung in dieser Inszenierung

27. September 2019

Von Manfred A. Schmid

Da die international als Salome hochgehandelten litauischen Sopranistin Ausrine Stundyte ihr mit Spannung erwartetes Hausdebüt kurzfristig krankheitshalber absagen musste, wurde man mit Camilla Nylund in der Titelpartie großzügig beschenkt. Diese Möglichkeit ergab sich – so Operndirektor Dominique Meyer bei der Ansage – weil die Strauss- und Wagner-Spezialistin aus Finnland derzeit zu Proben zur Frau ohne Schatten in Wien weilt. Unvergessen Nylund als Salome 2011 an der Seite von Tomasz Konieczny als Jochanaan im Haus am Ring. Mit ihrem schlanken, hell timbrierten, klaren, nicht von zu viel Vibrato vernebelten Sopran und ihrem sinnlichen Spiel verlieh sie damals der Inszenierung nach Boleslaw Barlow und in der fin de siecle-haften Ausstattung von Jürgen Rose jene erotisch elektrisierende Note, die der Figur, aber auch der oszilierenden, irisierenden, schwül flackernden und aufgeladen wirkenden Musik des Komponisten entspricht. Ihre Stimme ist inzwischen voluminöser geworden und leuchtet kräftig, hat aber die Leichtigkeit in der Höhenlage beibehalten. Auch In höchster Erregung klingt ihr lyrisch-dramatischer Sopran nie scharf. Die Mittellage ist gut unterfüttert, und in der Tiefe bedient sie sich – besonders beim immer wieder lustvoll variierten Ausruf des Namens „Jochanaaaaaan“ – eines kehligen Sprechgesangs, der Gänsehaut hervorruft und der verstörten Seele Salomes entspricht. Und: Nylund forciert nie. Hat sie auch nicht nötig.

Denis Russell Davies am Dirigentenpult ist eigentlich ein Garant dafür, das Staatsopernorchester bei der Umsetzung der farbenprächtigen Partitur – bei der Uraufführung 1905 als ein avantgardistischer Meilenstein der Moderne gefeiert – zur Höchstleistung zu motivieren. So geschieht es denn auch. Davies setzt sein Augenmerk vor allem auf die modernistischen Akzente, meißelt die charakteristischen instrumentalen Soli – etwa die schlangengleich emporzüngelnden Läufe der Kontrafagotts – konturiert heraus, lässt es aber, wenn es darauf ankommt, auch so richtig krachen. Die scharfen, aufwühlenden Dissonanzen werden nicht eingeebnet, sondern können sich bis zur Schmerzgrenze entfalten. Manchmal beschleicht einen dann doch der Verdacht, es hier mit einer gewaltigen „Symphonischen Dichtung“ Marke Richard Strauss zu tun zu haben. Das funktioniert imponierend beim „Tanz mit den sieben Schleiern“. Doch dann klingt es gerade so, als ob der ehemalige Chefdirigent des RSO Wien und der Oper Linz zwischenzeitlich auf seine Sängerinnen und Sänger auf der Bühne vergessen hätte. In dem Gewoge gehen nämlich einige Stimmen zeitweise ziemlich kläglich unter. Nicht so jedoch der amerikanische Bass-Bariton Alan Held, der den Jochanaan mit beharrlicher, in sich ruhender Autorität ausstattet, unbeirrt seine Botschaft verkündet und zur moralischen Umkehr aufruft. Als ihm die magisch angezogene Salome allerdings zu nahetritt, wirkt er kurz irritiert und verunsichert, fasst sie an beiden Händen, bannt dann aber die implizite erotische Spannung dadurch, dass er sie donnernd verflucht und sich in seinen Brunnen zurückzieht.

Jörg Schneider ist ein geiler König Herodes, der seiner Stieftochter unablässig mit den Augen nachstellt.  Sein klangvoller Tenor und sein darstellerisches Geschick haben das Ensemblemitglied längst zur “Höheren Weihen“ empfohlen. Bei seinem Rollendebüt als Tetrarch kann er diese Vorzüge freilich nur zum Teil ausspielen. Beim Parlieren auf der Tribüne stehend, ist Schneider manchmal etwas zu leise, an der Rampe singend dreht er meisten ganz gut auf. Wenn sich das Getöse aus dem Orchestergraben allerdings zuspitzt, ist er kaum zu hören. Da lässt die Abstimmung noch zu wünschen übrig. Als zänkisches Eheweib Herodias kommt erstmals Linda Watson zum Einsatz. Nach den großen Wagner-Partien gelingt ihr nun eine gediegene Leistung im – nicht unkomischen – Charakterfach. Dass manche Spitzentöne etwas schrill daherkommen, passt gut zum Naturell einer verlebten Königin.

Beachtlich die Rollendebüts von Lukhanyo Moyake als sehnsuchtsvoller Narraboth und Margaret Plummer als besorgter, anteilnehmender Page. Das in letzter Zeit vielseitig eingesetzte Ensemblemitglied Michael Laurenz macht auch als Erster Jude gute Figur und stimmlich was her. Anders ist es um die weiteren vier Juden und die beiden Nazarener bestellt. Eine Kritikerkollegin hat unlängst moniert, dass die Staatsoper keine Nachwuchspflegeanstalt sei. Genausowenig ist sie aber ein Kurhaus für Jahrgänge, die ihrer Stimme von vorgestern nur noch am Stock nachlaufen. Und im Unterschied zur ersten Gruppe gibt es für sie auch kaum eine Chance auf Weiterentwicklung

Freundlicher Applaus für das Ensemble, anschwellender Beifall für Nylund, Dennis Russell Davies und Alan Held.

Manfred A. Schmid

BADEN-BADEN: ORPHÈE ET EURYDICE

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Arianna Vendittelli (Eurydice), Dmitry Korchak- (Orpheus)-©-Kiran-West.

Baden-Baden: „ORPHÈE ET EURYDICE“ – 27.09.2019

Die glorreiche Ära von Andreas Mölich-Zebhauser endete im Sommer, der rührige erfolgreiche Intendant am Festspielhaus ging  in seinen wohlverdienten Ruhestand. Möge ihn im neuen Lebensabschnitt Gesundheit, viel Freude und alles Gute stets begleiten, wir wünschen es Herrn Mölich-Zebhauser  von Herzen.

Zu neuen Taten, teurer Helde singt Brünnhilde in Wagners „Götterdämmerung“ – sollten doch diese Worte  dem neuen Intendanten als Slogan dienen.  Benedikt Stampa wünschen wir während seiner Amtszeit im Festspielhaus  unzählige aufsehenerregende künstlerische Erfolge und stets volle Kassen.

 Das Festspielhaus an der Oos eröffnete die Spielzeit 2019/20 mit einer ungewöhnlichen Premiere: „Orphée et Eurydice“  (Christoph Willibald Gluck) als Ballett-Oper  für dieses Gesamt-Kunstwerk anders kann man es nicht nennen zeichnete sich John Neumeier verantwortlich. Der großartige geniale Choreograph vom  Hamburg Ballett führte Regie, kreierte die Kostüme und übernahm die komplette künstlerische Leitung. Die Produktion hatte bereits im Februar mit sehr großem Erfolg in Hamburg Premiere. Während meiner Opern-Jahrzehnte erlebte ich das Werk bisher nur in deutschen und italienischen Fassungen und nun heute erstmals die französische Version.

Die richtige Wahl der Fassung zu treffen beschäftigte den Komponisten gar selbst, bereitete ihm zu Lebzeiten mancherlei Probleme. Im Jahre 1762 erfolgte in Wien die UA von „Orfeo e Eurydice“, wurde mehrfach den jeweiligen Bedingungen angepasst und geändert. Grundlegend überarbeitet hatte sodann die franz. Version 1774 in Paris ihre Aufführung. Wie CD-Einspielungen belegen war Orphée von diversen Stimmen wie Bariton, Altistin, Tenor  oder von einem Counter-Tenor besetzt – in Baden-Baden wählte man die Tenorstimme, eine für mich wunderbare Entscheidung.

John Neumeier verlegte die mythologische Handlung in unsere Zeit in ein Ballettstudio: Orphée und Eurydice, Ballettchef und Primaballerina geraten während der Ouvertüre in Streit, sie verlässt den Saal und kommt bei einem Autocrash ums Leben. Der erste Akt beginnt mit der Chor- und Orphée-Klage, hier verschmelzen bereits in ausdrucksstarken Gesten der Trauer Gesang und Tanz in bezwingender Prädikation. Zunächst tanzte die Company in konventionellen Schrittkombinationen, in der Unterwelt wirkte sodann der moderne Street-Dance schon gespenstiger. Weichere Bewegungen der Tänzer erwahrte man sodann um Eurydice im Totenreich zum „Tanz der seligen Geister“, einer der eindrucksvollsten Szenen überirdisch verklärt, man wähnte sich wahrhaftig in einer anderen Welt. Die Bühne in zart helles blau getaucht, eine Gruppe des Ensembles bewegte sich unmerklich verspielt und ob der Leichtigkeit schwerelos erschien es technisch umso schwieriger. Großartig und dennoch dezent setzte Neumeier das Titelpaar Edvin  Revazov (Orphée) Anna Laudere (Eurydice) in Szene, wunderbar flossen die „Duette“ in herrlichen Hebe-Figuren und Bewegungsstrukturen in den Ablauf. Von Noblesse, Ästhetik und Schönheit waren die Ensembles der gesamten großartigen Tanzcompany geprägt im vielfältigen choreographischen Gesamtbild. Wenige Interieurs offene variierte Elemente, eine Bank, ein Baum dienten zur Bühnendekoration,  im teils diffusen atmosphärischen Licht-Design schloss sich wiederum der Kreis beim Finalbild im Probensaal,  alles nur ein Traum, reine Improvisation? Gleich aus welcher Sichtweise, die optischen Eindrücke waren einfach genial, ein klassisches Element in den Kosmos moderner Tanzsprache transponiert.

Am Pult des Freiburger Barockorchesters waltete Allessandro De Marchi und vermittelte einen teils trockenen aber dennoch authentischen Orchesterklang. Unter dem italienischen Dirigenten erklangen zwar praktikable detaillierte Kniffe der Instrumentation und steigerten die Partitur zum abwechslungsreichen dramatischen Fluss, kombinierte  Feinabstimmungen der Musik erschienen in enormer Transparenz und es gelang ihm eine frische moderne Gluck-Deutung. Starke orchestrale Akzente setzte Maestro De Marchi besonders nicht nur bei lyrischer Melodik, nein auch während der effizienten Klang-Affekte, welche die vortrefflich disponierten Freiburger  umzusetzen verstanden. Mich störten lediglich die moderato Tempi besonders im ersten Teil welche zu Lasten der fesselnden Innenspannung des Werkes gingen. Ebenso ungewohnt erschienen in meinen Ohren die dominanten überproportionierten Einschläge.

Mit feinnervigem Spiel verband Dmitry Korchak seine exzellente Vokalise und überzeugte als Orphée der Sonderklasse. Zu minimaler Gestik verstand es der Sänger ein Maximum ausdrucksstarker Darstellung zu vermitteln. Mit effektvoll eingesetztem kultiviertem Legato , schmeichelndem Timbre gesegnet vermittelte Korchak geradezu eine tenorale Traumbesetzung der Partie. Virtuos verstand es der Sänger Koloraturen mit klangschönen Höhen in kernigem Vokalbild zu einen und prächtig in Emphase seine Arien und Duette zu charakterisieren.

Tänzerische Anmut schenkte in wunderschön weich fließendem Kleid die schlanke aparte Arianna Vendittelli der unglücklichen Eurydice. Die Sopranistin erlöste dank der Regie die Figur aus ihrer historisch-mythischen Erstarrung und verhalf ihr mit schön timbrierter Stimme und feinen Farbnuancen  zu fesselnden Akzenten.

Etwas verhalten im Spiel dafür vokal kokett, frisch, klar mit hellem Höhenklang kam der Sopran von Marie-Sophie Pollak als Vermittler L´Amour daher.

Ausgezeichnet disponiert agierte in packender Energie und Plastizität das von Holger Speck bestens vorbereitete Vocalensemble Rastatt und trug ebenso zum vortrefflichen Gelingen der Performance bei.

Mit prasselndem Szenenapplaus, Ovationen und Jubel ohne Ende feierte das Publikum alle Beteiligten und ganz besonders euphorisch John Neumeier. Ein glanzvoller Auftakt der neuen Saison und Intendanten-Ära.

Gerhard Hoffmann

WIEN / Scala: LOVEPLAY

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Fotos: Bettina Frenzel

WIEN / Scala:
LOVEPLAY von Moira Buffini
Premiere: 28. September 2019

Bruno Max ist für seine Bühnen (die Scala in Wien und das Stadttheater Mödling) auf Entdeckungsreise gegangen und fündig geworden. Dabei erstaunt es, dass die Britin Moira Buffini (Jahrgang 1965) noch so gut wie nie bei uns gelandet ist, denn in London und im englischsprachigen Raum hat sie schon einige Theatererfolge zu verzeichnen. Und intelligenter, ironischer Boulevard mit einem Hauch Tiefgang, der jedoch nie aufgeblasen wirkt, das tut dem Theater von Zeit zu Zeit gut. Darum hat Bruno Max „Loveplay“ auch gleich selbst übersetzt. Und in Eigenregie an seinen Häusern mit leichter Hand zum Erfolg gebracht.

„Loveplay“ ist genau das, was der Titel sagt – es geht um Liebe, es geht um Spiel, und es geht um Sex als Draufgabe. Dafür wandert Moira Buffini in zehn Szenen von der römischen Antike bis heute, und wie die Wiener Aufführung zeigt, muss gar nicht England der dezidierte Schauplatz sein. Und, damit es nicht nur für das Publikum amüsant, sondern für die Schauspieler eine echte Herausforderung wird – sechs von ihnen, drei Damen, drei Herren, verkörpern alle Rollen in den zehn Szenen, die zwischen zwei und fünf Darsteller haben. Die Vielfalt an Charakteren, die man den Herrschaften abfordert, ist enorm.

Bemerkenswert, wie viele Variationen zu dem Thema der Autorin eingefallen sind. (Der Vergleich mit Schnitzlers „Reigen“ hinkt schon deshalb, weil der Geschlechtsakt nicht immer Ziel und Höhepunkt der Szenen ist.) Natürlich ist nicht alles gleich wirkungsvoll, aber eigentlich sackt auch nichts wirklich ab. Wenn man sich einen Höhepunkt aussuchen dürfte, dann vielleicht die in der Renaissance spielende Geschichte, wo eine Theaterprobe auf die Bühne gestellt wird, die beiden Schauspieler dem Dichter ganz schön zusetzen, „Stück“ und Privates sich mischen und Johanna Rehm (immer gut, aber hier noch ein bisschen besser) wütend zwischen zwei Männern steht, beide Versager auf menschlicher und sexueller Ebene. Nur dass sie nicht sterben, wenn man ihnen nur einen Theaterdolch in den Bauch rammt…

Moira Buffini räumt der gleichgeschlechtlichen Liebe ihren selbstverständlichen Platz ein, und die Szene, wo ein Maler seinen alten Freund, der nun Vikar ist, auf den Weg führt, den er sich längst heimlich wünscht, hat regelrecht Zartheit und Poesie. Philipp Stix spielt diesen sanften Verführer von Leopold Selinger (beide am Foto), ist aber noch komischer, wenn er sich splitterfasernackt (in diesem Fall vom Stück her unabdingbar) einem reichen Blaustrumpf zur Verfügung stellt, die noch nie einen nackten Mann gesehen hat: Das ist die beste Rolle (unter vielen) von Eszter Hollósi.

Alle drei Damen – Samantha Steppan kommt dazu – widmen sich der lesbischen Seite bei sehnsuchtsvollen Nonnen im Mittelalter und (Steppan und Hollósi) in der Gegenwart, wo in einer Dating-Agentur mit Gefühlen Geschäft gemacht werden soll – und man nicht wagt, die echten, hier lesbischen Gefühle auszuleben. Eine schöne Erkenntnis in Bezug auf gegenwärtige Verhaltensweisen übrigens, so wie die drollige historische Parodie auf die Blumenkinder von 1968, die so entfesselt taten und sich möglicherweise vor der freien Liebe mit jedermann zu Tode fürchteten… Matthias Tuzar ist hier Revolutionär wie andernorts affektierter Dichter, Ehebrecher oder erfolgloser  Sex-Eleve.

Es geht natürlich um Sex für Geld (bei den Römern) oder Sex, der nicht klappt, um Vergewaltigung und Ehebruch, um Spaß an der Sache und Horror und Ängste, die sie hervorrufen kann. Das Publikum hat beim Zuschauen all diese Probleme nicht. Es darf nur herzlich lachen. Und die Verwandlungskünste (manchmal bis zur Unerkennbarkeit) der Darsteller bewundern.

Renate Wagner

Weitere Termine: 01.10. – 19.10. 2019 jeweils Di-Sa um 19:45 Uhr

 

WIEN / Albertina: ARNULF RAINER

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WIEN / Albertina / Pfeilerhalle:
ARNULF RAINER –
EINE HOMMAGE
Vom 27. September 2019 bis zum 19. Jänner 2020  

Eine Ikone
auch des Hauses

Fast entschuldigend meinte Albertina-Dirketor Klaus Albrecht Schröder, dass sein Haus Arnulf Rainer ja bereits vor fünf Jahren, zum „85er“, eine Großausstellung (damals mit 150 Werken) gewidmet habe. Dennoch sei Rainer wichtig genug nicht nur für die österreichische Kunst, sondern für die Weltkunst, dass man seinen 90. Geburtstag nicht ungewürdigt vorbeigehen lässt. Zumal in der Albertina, die von dem Künstler so reich beschenkt wurde, dass man derzeit an die 250 Arbeiten von ihm besitzt. Der Direktor bekam zu seinem eigenen 50. Geburtstag von Rainer seine übermalten „Mona Lisa“-Hände überreicht, sicher ein besonders charakteristisches Werk. Und Dankbarkeit ist eine Stärke von Klaus Albrecht Schröder.

Von Renate Wagner

Arnulf Rainer   Rainer wurde am 8. Dezember 1929 in Baden bei Wien geboren, wo man ihm längst ein eigenes Museum im Zentrum der Stadt eingerichtet hat. Akademische Studien bedeuteten ihm nichts, mit seinen „wilden“ Zeitgenossen schloß er sich früh zusammen, darunter mit Maria Lassnig, mit der er eine zeitlang auch privat verbunden war – nach drei, vier gemeinsamen Jahren scheiterte die Beziehung nicht zuletzt an der Konkurrenz zweier zu starker Persönlichkeiten. Dass Rainer zu seinem 90er und die Lassnig zu ihrem 100er zeitgleich nun mit Ausstellungen unter dem Dach der Albertina vereint sind, wirkt wie höhere historische Gerechtigkeit… Rainer durchlief in seiner Kunst zahlreiche, auch genau zu unterscheidende Entwicklungsphasen, die dennoch seine urpersönliche Handschrift tragen. „Übermalungen“ allerdings wurden zu seiner Charakteristik, quasi zu seinem weltweiten Signet.

Die Ausstellung       Die drei Räume der Pfeilerhalle beinhalten „nur“ an die 40 Werke, davon viele großformatig. Kuratorin Antonia Hoerschelmann ist es allerdings gelungen, die vielen Gesichter des Arnulf Rainer (im konkreten Wortsinn und im übertragenen Sinn) in jeweils charakteristischen Werken aus verschiedenen Phasen zu zeigen. Als Überblick wird man hier hervorragend dazu informiert, was Rainer in seiner Vielfalt ausmacht. Das man dergleichen ausschließlich aus den Besitztümern des eigenen Hauses bestücken kann, stellt der Sammlung das allerbeste Zeugnis aus.

Von Schwarz zu Bunt     Von Schwarz zu bunt, von abstrakt zu konkret, von biographischer Körperkunst so symbolistischer Kreuzesgestaltung – alles da. Die Farbe Schwarz, die ihn in Variationen die meiste Zeit seines Lebens begleitete, steht in entschlossenen, harten Strichen am Anfang der Ausstellung. Es ist dramaturgisch einsichtig, dass danach die „Schleierbilder“ aus den letzten Jahrzehnten seines Lebens folgen, in denen er Farbe – in ähnlicher Ungegenständlichkeit – verfließen lässt.

Die Übermalungen   Wenn Künstler ein „Markenzeichen“ brauchen, der Erkennbarkeit und der Vermarktung wegen, dann sind es bei Arnulf Rainer die Übermalungen, die ihm auch viel Feindseligkeit eingetragen haben. Sehr zu seiner persönlichen Betroffenheit, weil er ja damit nicht Zerstörung, sondern künstlerische Erhöhung beabsichtig, wenn er sich und andere, Gemälde und Fotos mit Farbe, mit Kohle, mit Stift „übermalt“. Dazu kommen als wesentliches Element die Fotoüberarbeitungen, die Rainer – er selbst als Modell und Körper, der bemalt und gestaltet werden kann – ins Zentrum stellen. Der Aktionismus wetterleuchtet nach.

Die Kreuze     Geht man in den „Kapellen“-Raum der Ausstellung hinab, würde man einen Augenblick an Hermann Nitsch denken, aber nur die Form von Kreuzen und einer entfernten Art von Messgewändern ist ähnlich, die Farben sind es nicht. Zwar „schüttet“ auch Rainer gelegentlich, aber er hat nie die Farbigkeit und den sakralen Touch von Nitsch, er bleibt konstitutionell dunkel und düster. Seit den 50er Jahren hat Rainer diese Form gesucht, ohne je den religiösen Kontext herzustellen. Gewissermaßen im Zeitraffer geht die Ausstellung durch Rainers Schaffen, und das auf höchster Qualität.

Albertina:
ARNULF RAINER – EINE HOMMAGE
Bis zum 19. Jänner 2020,
täglich 10 bis 18 Uhr, Mittwoch und Freitag bis 21 Uhr  

STUTTGART/ Schauspielhaus: „ECHT SCHMIDT“– gewitzter Entertainer mit Pianist

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Harald Schmidt und GMD- Cornelius Meister. Foto: Björn Klein

Premiere „Echt Schmidt“ von Harald Schmidt am 28. 9. 2019 im Schauspielhaus/STUTTGART

GEWITZTER ENTERTAINER MIT PIANIST

Der 1957 geborene Kabarettist, Schauspieler und TV-Entertainer Harald Schmidt überraschte das Publikum mit dem Bühnbild aus Calixto Bieitos Inszenierung der „Italienischen Nacht“ von Ödön von Horvath. „Wie vermeide ich CO2?“ lautete die rhetorische Frage. Das Klima-Paket, die Thomas-Cook-Pleite, Greta Thunberg, Boris Johnson und das Waldsterben wurden hier nacch Herzenslust durch den Kakao gezogen. Julia Klöckners Auftritte würden ihn an den „Herrn der Ringe“ erinnern, meinte Schmidt lakonisch. Nach dem Besuch der Schauspielschule habe er 41 Jahre daran gesetzt, diese Bühne für sich allein zu haben. Er wolle dem Publikum in diesem Zusammenhang Frontalunterricht der härtesten Sorte bieten. Er musste auch mit dem Anwalt von Claudia Schiffer rechnen. Nachdem er den seltsamen Englisch-Akzent von Boris Johnson nochmals parodiert hatte, verkündete er dem Pubikum, dass er eine besondere Beziehung zum englischen Komponisten Henry Purcell habe. Im Gymnasium habe er den Musiklehrer mit der Bezeichnung „Heinz Purzel“ auf die Palme gebracht. Dabei nahm Harald Schmidt auch den städtischen Minderwertigkeitskomplex aufs Korn. Selbst Richard Wagner wurde erwähnt. Man wisse, dass dieser ein Genie und Antisemit gewesen sei: „Den wird man hier ja wohl noch spielen dürfen!“ In Stuttgart könne allerdings jeder sehr schnell auf der Bühne stehen, man betrete als Irrer die Bühnenmitte. Schmidt gab zu, aus Versehen Wirtschaftswissenschaften studiert zu haben. „Weiß der Roboter, dass über Heiko Maas alles gesagt ist, wenn er mit der Tasche um die Ecke kommt?“ fragte Schmidt lakonisch. Das Augenklimpern von Cem Özdemir fand er genau so verräterisch wie die Tatasache, dass eine Putzfrau 40 Jahre SPD-Mitglied sei und kaum Rente erhalte. Gelästert wurde in heftiger Weise über TV-Stars wie Moderator Claus Kleber, der sich wohl auch vor den „Jungs von Trump“ fürchten müsse. Marietta Slomka und Heinz Wolf mussten ebenfalls dran glauben: „China ist heute explodiert!“ An John F. Kennedy und seine Jackie wurde erinnert. Schmidt amüsierte sich über Frauen, die Männer mit Pferdeschwanz suchten. Er erinnerte an einen Ärztekongress, wo er aufgetreten sei. Und er imitierte die Polka in der „Italienischen Nacht“. Satirisch beleuchtete der gewitzte Kabarettist und Entertainer die Kontaktanzeigen im Internet: „Attraktive Singles in Stuttgart warten auf dich…“ Da erwiderte er: „Wo wart ihr, als ich euch gebraucht hätte?“ Er suche aufgrund von „erotischem Schabernack“ nach einer „knallharten Identitären“. Man müsse eben fit für die digitalen Herausforderungen sein. Reichliche Sprachverwirrung gab es dann im Bereich des Portugiesischen und Brasilianischen. Da käme es auch vor, dass einfach mit „Tampons geschossen“ werde. Er zitierte Rudi Carrell: „Damit du was aus dem Ärmel schütteln kannst, muss ich etwas hinein getan haben!“ Er spottete über CDU-Landesverbände und über Ex-Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, die „einen Arsch wie eine 15jährige“ hätte. Dann erklang Fritz Wunderlich mit „Dein ist mein ganzes Herz“ aus Franz Lehars Operette „Das Land des Lächelns“. Harald Schmidt bot dabei eine hintersinnige Parodie. Und er verteidigte Tenöre wie Placido Domingo, die aufgrund diverser Intrigen ihr Gesicht verloren hätten. Man brauche eine Schauspielausbildung fürs Privatleben, meinte Schmidt. Dann begrüßte er seinen Stargast: Den Stuttgarter Generalmusikdirektor Cornelius Meister. Der bestand als Mann des absoluten Gehörs nicht nur den Gehörtest bravourös, sondern philosophierte auch über Richard Wagners „Tristan-Akkord“, nach dessen mysteriösem Erklingen Wagners Schwiegervater Franz Liszt drei Tage mit Fieber im Bett gelegen habe. Zuletzt fantasierte Cornelius Meister noch zusammen mit Harald Schmidt (der das Pedal bediente) über „Ariadne auf Naxos“ von Richard Strauss. Da tobte das Publikum schließlich und steuerte „Bravo-Rufe“ bei. Das Duo Schmidt/Meister konnte die Herzen der Theaterfans rasch für sich gewinnen. Diese erste Folge von „Echt Schmidt“ in der Inszenierung von Harald Schmidt machte als „bunter Abend für Abgehängte“ jedenfalls neugierig, zumal der Entertainer in der „Wunschpunsch“-Premiere im Oktober ebenfalls auf der Bühne steht. 

Alexander Walther


FLENSBURG/ Schleswig-Holsteinisches-Landestheater: RIGOLETTO, Premiere

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Es war eine besondere Premiere, die da am Schleswig-Holsteinischen Landestheater stattfand: Zum einen handelte es sich um die erste Musiktheaterproduktion der Saison, spannender machten den Abend aber die Faktoren neuer Generalmusikdirektor und scheidender Generalintendant. Diese besondere Atmosphäre und nicht zuletzt die künstlerischen Leistungen des Abends belohnte das Publikum schließlich mit stehenden Ovationen.

Beginnen wir beim scheidenden Generalintendanten. Peter Grisebach ist seit der Spielzeit 2010/2011 Generalintendant des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters und Sinfonieorchesters. Damals stand das Haus kurz vor der Insolvenz und er trug durch seine Neuausrichtung des Musiktheaters, des Schauspiels und des Balletts maßgeblich dazu bei, dass Deutschlands nördlichste Region heute überhaupt noch ein eigenständiges Dreispartenhaus hat. So galt ein Teil des Jubels sicher der Gesamtleistung des Intendanten und nur zum Teil der an diesem Abend gesehenen Inszenierung. Diese sollte modern sein, was durch Kostüme und Bühnenbild auch klar zum Ausdruck kam, war aber doch eher unaufgeregt. Das rauschende Fest zu Beginn deutet Ausschweifungen eigentlich nur an. Die auf Konsumgut reduzierten Damen sind auf der kleinen Flensburger Bühne züchtiger gekleidet, als manche Abiturientin beim Shopping in der Fußgängerzone. Rigoletto hat bei Grisebach keinen Buckel, sondern eine Gehbehinderung, die ihn in einigen Szenen in einem extravaganten Rollstuhl über die Bühne gleiten und ihn in anderen Bildern an Krücken gehen lässt. Das Bühnenbild von Michele Lorenzini zeigt den Palast des Herzogs als moderne und gleichsam architektonisch kühle Villa, Rigolettos Haus als Käfig, in dem er seine Tochter Gilda vor Gefahren aus der Außenwelt beschützt, sie aber in der Konsequenz gleichzeitig ihrer Freiheit beraubt und Sparafuciles Heim lässt er gar zur Rotlichtbar mutieren. Die Kostüme sind tendenziell unauffällig und zeitgemäß, umso klarer stechen der farbenfrohe blaue Anzug des Duca und auch die einfallsreiche Rollstuhlkonstruktion Rigolettos ins Auge.

Rauschendes Fest beim Duca di Mantua © Henrik Matzen

Kimbo Ishii am Pult sorgte am Premierenabend für ein konzentriert und harmonisch aufspielendes Schleswig-Holsteinisches Sinfonieorchester, das Verdis Partitur sehr geschmeidig und an den nötigen Stellen auch dramatisch umsetzte. Der absolut bewundernswerten Leistung, dass alle Sänger stets ohne brüllen zu müssen sehr gut zu hören waren, gebührt ein Sonderlob.

Chul-Hyun Kim (Duca di Mantua) hatte durchaus die Phonstärke, um sich auch gegen unsensibler aufspielende Musiker Gehör zu verschaffen. Insbesondere im zweiten und dritten Akt tat er sich schwer damit, seine vokalen Kräfte zu zügeln. Wenn es ihm doch gelang, klang sein Tenor strahlend und schön. Kai-Moritz von Blanckenburg gestaltete einen intensiven Rigoletto. Er verstand es, den Charakter des ausgegrenzten und um seine Tochter sorgenden Hofnarren darstellerisch optimal zu verkörpern und wartete dabei mit einem schönstimmigen Verdi-Bariton auf. Manchmal meinte ich, eine gewisse Nervosität herausgehört zu haben, aber falls dies keine Einbildung war, sollte sich das in den kommenden Vorstellungen schnell legen. Einen uneingeschränkt positiven Eindruck hinterließ Amelie Müller als Gilda. Ihr Sopran überzeugte mit einem bezaubernden silbrigen Klang, der sowohl in den Koloraturen als auch in den lyrischen Passagen wunderbar zur Geltung kam und dessen Timbre wunderbar zur Rolle passte. Sie verstand es vorzüglich die Wandlung von der behüteten Tochter zur emanzipierten Frau zu durchleben und punktete auch durch ihr ausdrucksstarkes Spiel. Sparafucile gab das neue Ensemblemitlgied Roger Krebs und machte Lust auf weitere Begegnungen mit dem Sänger. Eva Maria Summerer als Maddalena zeigte ebenfalls Profil. Auch die weiteren Rollen waren gut besetzt und auch der Chor unter der Leitung von Bernd Stepputtis trug seinen Teil zum Erfolg des Abends bei.

Emotionale Protagonisten in nüchternem Ambiente: Kai-Moritz von Blanckenburg und Amelie Müller © Henrik Matzen

Auch für diese Produktion lohnt sich ein Ausflug zu Deutschlands nördlichstem Opernhaus. Nicht nur Touristen, sondern auch Opernliebhabern und Agenten auf der Suche nach sehr guten Sängern sei die Reise an die dänische Grenze ans Herz gelegt.

Marc Rohde 09/2019

CHEMNITZ/ Opernhaus: MEFISTOFELE von Arrigo Boito. Premiere

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Markus Poitek und Sophia Maeno. Foto: Nasser Hashemi

Premiere am 28.September 2019 „Mefistofele“ Oper von Arrigo Boito, am Operhaus Chemnitz

„Zwischen himmlischen Sphären und der Geburt des Bösen“

 Dieses so phänomenale Opernwerk von Arrigo BOITO, der vor allem als Librettist von Verdis beiden Opern „Othello“ und „Falstaff“ bekannt, wurde bereits  mit großem Erfolg, unter der Regie von Alex Ollé von der katalanischen Gruppe La Fura dels Baus, am 29.Juni 2019 in Cooperation mit der Opera Lyon an der Staatoper Stuttgart aufgeführt. Doch in der gestrigen Premiere, feierte dieses Werk einen triumphalen Einzug am Chemnitzer Opernhaus, welches unter der großartigen Inszenierung von Balázs KOVALIK alle Register zog und wahre Begeisterungsstürme bei Publikum auslöste.

Obwohl dieses grandiose Opernwerk bei der Uraufführung am 5.März 1868 an der Mailänder Scala, noch in der Originalfassung von Fünfeinhalb Stunden ein ausgesprochenes Fiasko war, so ist es heute in vielen Neubearbeitungen und Kürzungen vom Spielplan nicht mehr wegzudenken. Und es hat durchaus seine künstlerische Berechtigung wohl verdient, denn kaum ein Opernwerk ist von so einer musikalischen Vielfalt und Schönheit, wo allein auf beeindruckende Weise durch opulent besetzte Chöre, hier ein berauschender sinfonischer Stil dargestellt wird, wie man es nur selten in Opernwerken erlebt. Beginnen wir also mit dem Prolog, der von so einer geballten musikalischen, harmonischen und rhythmischen Überzeugungskraft, sodass es einem eiskalt über den Rücken läuft, und wo die Versinnbildlichung all dieser himmlisch, sphärischen Töne einen zunächst in eine vollkommen andere Welt versetzt. Hier alles, wie der übertönende Hymnus, brillant in Szene gesetzt mit dem Chemnitzer Opernchor, wo das All von himmlischen Heerscharen erfüllt, das göttlich Wahre und nur das Gute zelebriert wird. Wäre da in dieser so zeitlosen und friedlichen Unendlichkeit nicht Mefistofele, der im Himmel eine Meuterei anzettelt, und er der in der Gestalt des Bösen, aus dem Himmel verstoßen wird. Allein seine Verführungskünste, in Faust alle Sehnsüchte des irdischen Lebens zu erwecken, sodass dieser die Freuden des Lebens auszukosten vermag, bedeutet aber gleichzeitig auch der Verkauf seiner eigenen Seele welches ihn zu einem Gefangenen macht. Goethes Thematik zu Faust I. und II. war also insofern immer ein zeitloses Thema und man tat gut daran dieses Werk in die heutige Zeit zu verlegen. Wo das Weltbild sich vollkommen verändert hat, und die Charakterzüge des Menschen in eine neue Orientierung

des Konsums, der unersättlichen Sehnsüchte nach Spiel und Unterhaltung, und der Gier und Gewalt abgerutscht ist. Wodurch sich nicht nur eine Passivität, Gleichgültigkeit und Oberflächlichkeit entwickelt hat, sondern wo der Verlust von Identifikation und Werten, so auch nach Aussagen von Erich Fromm, sie zu Befehlsausführenden und  ferngesteuerten Maschinen gemacht hat.

All diese hier angeführten Kriterien fanden in der Inszenierung von Balázs KOVALIK ihre eigene Bedeutung. Wo insbesondere im zweiten Aufzug des Hexensabbats durch die Darstellung einer heutigen ausschweifenden Gesellschaft, der Untergang der Welt nicht besser hätte verdeutlicht werden können. Dazu kommt die brillante Regie – und Personenführung, welche zu der Vollkommenheit dieses Opernwerks beitrug. Ein opulentes und aufwendiges Bühnenbild (Csaba ANTAL) und die farbenprächtigen Kostüme (Mari BENEDEK), verstärkt durch sehr illusionistische, fantasiereiche und überaus beeindruckende Entwürfe, wo die gesamte Komplexität dieses Werks sich widerspiegeln, sind das Nonplusultra dieser Inszenierung. Mit Eisenkonstruktionen, fliegenden Ballons und aufsteigenden Himmelsboten, wird hier ein sehr lebendiges Bühnen – und Kostümbild geboten welches nicht schöner hätte sein können.


Foto: Nasser Hashemi

Was die Virtuosität des Orchesters und der Solisten betrifft, so entsprechen deren Darbietungen einer außergewöhnlichen Leistung. Abgesehen von dem fulminanten  Orchester unter dem glanzvollen Dirigat von Guillermo Garcia CALVO, so wäre hier zunächst Katerina HEBELKOVA in der Partie als Margherita und Helena zu erwähnen. Die in Jihlava/Tschechische Republik geborene Sängerin, die zunächst ihr Studium an der Hochschule für Musik und Theater in München absolvierte, Stationen wie Staatstheater Oldenburg (2005-2008), am Landestheater Linz (2008-2013), und für internationale Gastspiele, ihr außergewöhnliches Talent bereits unter Beweis stellen konnte, überzeugte an diesem Abend mit einer beeindruckenden und kultivierten Gesangsstimme. Die herrliche Klangfarbe ihres lyrischen Soprans, die ideale Stimmführung vom leisesten Pianissimo, bis hin zu den hochdramatischen Tönen, die außergewöhnliche Bandbreite ihres gesamten Stimmvolumens, waren beinahe schon überirdisch und von einer starken Überzeugungskraft. Insbesondere auch ihr Spiel im Zweiten Aufzug wo sie wegen Kindesmord zu Tode verurteilt wird, war von einer derartig schauspielerischen Dramatik geprägt, sodass man als Zuseher derart überwältigt, wo alles Blut in Wallung geriet, nicht nur allein auf der Bühne.  Der Rumäne Cosmin IFRIM als Faust, der Margherita den Hof macht, brillierte hier in der Tenorpartie mit schmelzenden Tönen und problemlosen Höhen. Allein im dritten Aufzug, wo er sich im Augenblick des Todes, wo sein Geist von einer utopischen Vision gepackt wird, in der er den Sinn seines Lebens findet, sind von ergreifender Darstellung und Interpretation.

Mefistofele, mit eines der Hauptfiguren in Goethes Faust, ist er doch am End in diesem musikalischen Bühnenwerk als Höllenfürst (Magnus POINTEK)der große Verlierer.  Denn mit Fausts Worte „ Verweile doch, du bist so schön!“, ist der Moment, an dem dieser die Endlichkeit des Seins erkennt und sich Gott zuwendet, der ihm Erlösung im Tod gewährt. Pointek, der seit 2016 dem Solistenensemble der Oper Chemnitz angehörig, zog stimmlich als auch darstellerisch an diesem Abend alle Register. Er der mit Martha anbandelt, gespielt mit Sex – Appeal und schauspielerischen und gesanglichem Talent von der Mezzosopranistin Sophia MAENO, beherrscht alle Verführungskünste aus dem FF und überzeugt mit charismatischer Ausstrahlung. In der Rolle des Wagners agierte Siyabonga MQUNGO als eine präsente Bühnenerscheinung mit einer ausgezeichneten Bassstimme.

Dieses außergewöhnliche Opernwerk welches eine große Herausforderung an die Solisten und an das Ensemble stellt, aber auch an das Publikum, übertraf alle Erwartungen und könnte durchaus ein Publikumsrenner werden. Denn auch die fulminanten und hinreißenden Balletteinlagen (Choreografie: Leo MUJIC) sind spektakulär in Szene gesetzt und eine wahre Augenweide. Abgesehen von dem großartigen Chor unter der Leitung von Stefan BILZ und wo für den Kinder – und Jugendchor verantwortlich Dovilé SIUPÉNYTÉ war.

Begeisterter Jubel und Applaus vonseiten des Publikums und letztendlich auch eine Bereicherung für das Opernhaus Chemnitz, die dieses so aufregende dramatische Werk von Arrigo Boito in Ihrem Spielplan aufgenommen haben. Eine durchaus sehenswerte Produktion als literarische Vorlage zur Faust – Dichtung, welches mit spektakulären Szenenabläufen für einen spannenden und unterhaltsamen Abend sorgt.

Manuela Miebach

 

 

WIEN/ Museumsquartier: ANGELS IN AMERICA. Österr. Erstaufführung

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Copyright: Armin Bardel

Museumsquartier Peter Eötvös ANGELS IN AMERICA (Premiere und österreichische Erstaufführung am 25.9.2019, besuchte Vorstellung: 28.9.2019): Einiges hat sich getan seit Pedro Calderón De La Barcas(1600-81) Mysterienspiel „Elgranteatro del mundo“ (Das Große Welttheater), denn Gott ist offenbar unauffindbar, sodass Engel den hilfeflehenden Menschen erklären, dass die Logik der Schöpfung kollabiert sei. Dem an Aids erkrankten Prior Walter erscheint einer dieser Engel. Die Oper „Angels in America“ beruht auf dem gleichnamigen Theaterstück von Tony Kushner (1956*), welches ungestrichen etwa sieben Stunden dauert. Peter Eötvös destillierte gemeinsam mit seiner Frau Mari Mezei aus Kushners Doppeldrama, unter Verzicht auf alle politischen Aspekte,eine Oper von zweieinhalb Stunden Dauer, in der aber zwei historische Personen auftreten. Zunächst Roy Marcus Cohn (1927-1986), ein einflussreicher US-amerikanischer Anwalt in der McCarthy Ära. Seine homosexuelle Neigung verleugnete er auch dann noch, als bei ihm Aids diagnostiziert wurde. Gegenüber dem ihn in seiner Todesverzweiflung erscheinenden Geist von Ethel Rosenberg, die auf sein Betreiben hin gemeinsam mit ihrem Gatten Julius wegen sowjetischer Spionage am 19.6.1953 im US-amerikanischen Staatsgefängnis Sing-Sing in New York auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wurde, behauptete er an Leberkrebs erkrankt zu sein. 2004 wurde die Oper am Pariser Théâtre du Chatelet uraufgeführt. Seitdem ist die Oper ein „work in progress“, an dem Eötvös ständig Änderungen vornimmt. In nunmehr 17 lose verknüpften Szenen werden in Eötvös Oper in zwei Teilen die Ängste und Hoffnungen vor dem Hintergrund von Aids und den Integrationsschwierigkeiten ethnischer, religiöser und sexueller  Minderheiten zusammengetragen, und die Überlebensversuche des Individuums in Beziehung zum großen Ganzen eines labilen Weltgefüges gesetzt. Die Oper spielt in den achtziger Jahre in New York, zu jener Zeit ein Ort tödlicher Bedrohungen und ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, wie eben die als eine poetische wie tödliche Klammer fungierende Erkrankung an Aids.  Eötvös lieferte mit seiner Partitur ein Abbild dieser Welt und verband Telefontöne und Großstadtgeräusche mit freiem Sprechen, setzte eine klassische und eine E-Gitarre als Doppelkonzert ein und unterlegte das Ganze noch mit Anlehnung an Broadway-Musicals. Regisseur Matthias Oldag verband in seiner klugen Inszenierung besonders geschickt die verschwimmenden Grenzen zwischen Halluzination und Realität. Die zentrale Frage kreist um die Frage, ob der Prior nun tatsächlich der Prophet ist, der die völlig aus den Angeln geratene Welt noch retten, respektive erlösen kann? Im Hintergrund erscheinen einige Originalschauplätze projiziert. Nikolaus Webern taucht die Bühne in eine Schneelandschaft, die wohl als Symbol „seelischer“ Kälte dient.


Copyright: Armin Bardel

Die Musik lag bei dem Eötvös erfahrenen musikalischen Leiters des amadeus ensemble-wiens,Walter Kobéra, in den besten Händen. Die Orchesterbesetzung legt den Schwerpunkt auf Holz- und Blechbläser (ohne Fagott, Horn und Oboe), Hammondorgel und Celesta, klassische Gitarre und E-Gitarre sowie einer riesigen Batterie an Schlagwerk samt Schellenbaum. Drei Damen und fünf Herren mussten auf Grund der raschen Szenenwechsel gleich in mehrere Rollen schlüpfen. Am stärksten wurde Caroline Melzer gesanglich herausgefordert, die als weißer und schwarzer Engel vom Schnürboden herabschweben durfte. Sophie Rennert muss als Mormonin Harper Pitt und Gattin des aufstrebenden Anwalts Joseph Pitt diesem aus Utah nach New York City nachziehen und wird dort damit konfrontiert, dass sich ihr Mann als homosexuell outet. Ihre seelische wie körperliche Frustration versucht sie mit Tabletten zu ertränken. In weiteren Rollen ist sie noch als Ethel Rosenberg und Angel Antartica zu sehen. Inna Savchenko leitet zu Beginn als Rabbi Chemelwitz ein jüdisches Begräbnis, auf welchem Prior Walter seinem Partner Louis die ersten Anzeichen seiner Aidserkrankung, ein Kaposi-Syndrom, auf dem Unterarm zeigt. Später tritt sie als Hannah Pitt, der Mutter von Joseph Pitt, und als Angel Asiatica auf. Wolfgang Resch gestaltete den mit seiner aufkeimenden Homosexualität ringenden Joseph Pitt besonders eindrucksvoll und war noch als Ghost 2 und Angel Europe zu sehen. Berührend ist auch das schwule Paar David Adam Moore als Prior Walter, dessen Aidserkrankung Franz Gürtelschmied, sein jüdischer Freund Louis Ironson, nicht gewachsen ist und ihn verlässt. Letzterer übernahm noch die Rolle des Angel Oceania. Den mächtigen Anwalt Roy Cohn, Exempel des Neoliberalismus und Intimus von Donald Trump, und der seine Aids-Diagnose vehement bestreitet, gestaltete  Karl Huml äußerst menschenverachtend. In weiteren Rollen trat er noch als Ghost 1 und Angel Australia auf. Countertenor Tim Severloh gefiel als resoluter Krankenpfleger Belize, Mr. Lies, Woman und Angel Africanii. Die gesanglichen Leistungen der mit Mikroportsausgestatteten Sängerdarsteller, sowie des Orchesters, des Dirigenten und aller sonstigen Beteiligten waren hervorragend, was vom Publikum auch mit großzügigem Applaus gewürdigt wurde. Bravi!                                 

Harald Lacina

 

WIEN / Leopold Museum: RICHARD GERSTL

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WIEN / Leopold Museum:
RICHARD GERSTL
INSPIRATION – VERMÄCHTNIS
Vom 27. September 2019 bis zum 20. Jänner 2020

Der Künstler
im Kontext

 

 

 

Richard Gerstl (1883-1908) ist – und das schmerzt Österreichs Kunsthistoriker – noch immer nicht so berühmt, wie er sein sollte. Gut zwei Jahrzehnte jünger als Klimt, drei Jahre älter als Kokoschka, sieben Jahre älter als Schiele, stand er mehr als gleichwertig in deren Kreis. Er starb als Erster von ihnen im Alter von 25 Jahren. Angesichts seiner kurzen Schaffensspanne von vier Jahren hinterließ er ein großes Werk – und war wohl der erste österreichische Expressionist. Dennoch steht er im Schatten der ungleich berühmteren Zeitgenossen. Die monographische Ausstellung in der Frankfurter Schirn-Halle 2017 (und anschließend in New York) hat einiges dazu getan, seinen Ruhm über Österreich hinaus zu tragen. Die Ausstellung im Leopold Museum versucht nun, Richard Gerstl in den Kontext seiner Vorgänger und „Erben“ zu stellen und so seine Stellung in der Kunstgeschichte – nicht nur der österreichischen – zu fixieren.

Von Renate Wagner

Richard Gerstl   Gerstl, geboren 1883 in Wien, stammte aus wohlhabender Familie und hatte zwei ältere Brüder, von denen einer, Alois, später eine entscheidende Rolle für die Vermittlung seines Werks spielte (und über den auch Rudolf Leopold viele Bilder erwerben konnte). Das Geld des Vaters ermöglichte Gerstl, der zu Lebzeiten aus seiner Kunst nie ein Geschäft machte, seine Existenz. Dass er sich nicht in die Kreise von Lehrern, Künstlerkollegen, Kunsthändlern mischte und auch nicht ausstellen wollte, trug schuld an seiner späten „Entdeckung“ lange nach dem Ersten Weltkrieg (durch den Kunstkenner Otto Kallir-Nierenstein). Gerstl, der weit gestreckte geistige Interessen hatte, fand sich im Kreis rund um Arnold Schönberg, schätzte und bewunderte den Komponisten, der selbst malte – eine Beziehung, die zu seinem Verhängnis wurde und zu seinem Tod durch eigene Hand 1908 führte.

Schicksal Mathilde      Das Leopold Museum gestaltet keine explizit biographische Ausstellung, dennoch schlägt das Schicksal gleich im ersten Raum zu. Hier sind die Gemälde „Gruppenbild mit Schönberg“ im Hochformat und die „Familie Schönberg“ (Arnold, Mathilde, zwei Kinder) zu sehen, auch drei Porträts jener Mathilde Schönberg, in die Gerstl sich hoffnungslos verliebt hat (was erwidert wurde), womit er auch seine ihm so wichtige Beziehung zu Arnold Schönberg zerstörte. Eine Spannung, die der junge Mann nicht ertrug und mit seinem Tod endete.

Gerstl im Hause Leopold      Diethard Leopold, der schon eine schmale Monographie über Gerstl vorgelegt hat und gemeinsam mit Leopold-Direktor Hans-Peter Wipplinger die Ausstellung gestaltet hat, ist mit diesem Künstler sein Leben lang vertraut. Sein Vater, der so qualitätssichere Sammler Rudolf Leopold, besaß eine große Anzahl von dessen Werken. In einer Veranda hingen die beiden berühmten Selbstbildnisse des Künstlers nebeneinander: Jenes frühere (datiert 1902 / 04) als Halbakt, wo er mit großen Augen fast starr in die Welt blickt. In diese Augen sah der junge Diethard fasziniert, wann immer er vorbei kam. Das andere Selbstbildnis als Akt, 1908 kurz vor seinem Tod entstanden, mit geradezu verschleierten Augen, verschreckte den kleinen Jungen hingegen. Er reagierte ganz genau auf die Stimmung der Werke… Die Sammlung Leopold besitzt 16 Gerstls (mit Dauerleihgaben 19), die Ausstellung konnte 50 der von ihm erhaltenen 70 Werke zusammen bringen. Die beiden hochformatigen „stehenden“ Selbstbildnisse hat man übrigens nicht, wie es etwa in Frankfurt der Fall war, nebeneinander gehängt, sondern zeigt sie von einander entfernt in verschiedenen Zusammenhängen. Mit den Werken der „flankierenden“ Künstler sind es über 200 Ausstellungsobjekte.

 

In Gesellschaft der Größten     Das Konzept der Ausstellung liegt in der Einordnung. Wenn zwei Gerstl-Selbstbildnisse, darunter jenes „lachende“, das dem Betrachter schier entgegen springt, neben einem Selbstbildnis von Van Gogh hängt, dann leuchtet – allein in der Strichführung – die Verwandtschaft ebenso ein wie zwischen dem stehenden Porträt von Ernst Diez, 1907, das neben dem in gleicher Haltung gemalten Gemälde steht, das Edvard Munch 1906 von Harry Graf Kessler geschaffen hat.

Gerstl eingebettet in die Kunst seiner Zeit, Vorbilder, die fast noch Zeitgenossen waren. Und man zeigt auch jene, die nach ihm kamen – und ob es Martha Jungwirth mit ihrem an Gerstl gemahnenden Strich ist, ob Chaim Soutine mit der Intensität seiner Bilder, aber auch Francis Bacon ist vertreten oder Willem de Kooning. Auch Arnulf Rainer, Günter Brus, Otto Muehl oder Herbert Brandl sind Verwandte im Geist. Man erkennt die Zusammenhänge, wenn man durch die Ausstellung geht, deren Wände in sattem Blau gehalten sind.

Forschungsobjekt Gerstl      Neben den Gemälden bietet die Ausstellung auch noch in Vitrinen eine Menge Material zu Gerstls Biographie, man hat seinem Leben einen eigenen Raum gewidmet. Die ausgestellten Dokumente stammen aus dem Besitz von Otto Breicha, der sammelte, forschte und viel für die „Entdeckung“ des Künstlers getan hat. Diese war schwierig, sperrig, weil das Werk stilistisch vielfältig und schwer einzuordnen ist und sich gänzlich vom damals noch herrschenden Jugendstil seiner Zeitgenossen emanzipiert hat. Man hofft, dass diese Ausstellung, die in Kooperation mit dem Kunsthaus Zug entstand (dort befindet sich die zweitgrößte Gerstl-Sammlung, dorthin geht die Ausstellung nach der Wiener Präsentation), Gerstls Rang endgültig und über jeden Zweifel hinaus bestätigen wird.

Leopold Museum:
RICHARD GERSTL
INSPIRATION – VERMÄCHTNIS
Bis zum 20. Jänner 2020,
täglich außer Dienstag 10 bis 18 Uhr, Donnerstag bis 21 Uhr

STUTTGART/ Staatsoper: CARMEN. Wiederaufnahme

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Bildergebnis für stuttgart carmen
Foto: Martin Sigmund

Georges Bizets „Carmen“ am 29. 9. 2019 in der Staatsoper/STUTTGART

Unheimliche erotische Kräfte

Die unglückliche Liebe von Don Jose zur Zigeunerin Carmen ist eigentlich die Kehrseite der romantischen Liebe. Die Beziehung ist von erotischer Aggressivität erfüllt. So wird es jedenfalls von Sebastian Nübling inszeniert. Ein düsterer Ort überrascht den Zuschauer: Das imaginäre Wohnzimmer ist mit Stehlampen geradezu überfüllt, man spürt Besitzdenken und Kontrolle. Im volkstümlichen Spanien vollzieht sich nach Nietzsches Worten „der Todhass der Geschlechter“. Und die destruktive Kraft verborgener Triebe zeigt sich ebenfalls in Carmens verhängnisvoller Liebe zu dem Stierkämpfer Escamillo, die ihr den Tod bringt. Denn Don Jose ist als Soldat nicht bereit, auf Carmen zu verzichten. So ersticht er die Geliebte schließlich in einer Verzweiflungstat. Alle ziehen zuletzt Clownsmasken an, damit manifestiert sich die geheimnisvolle kriminelle Unterwelt.

Die Geschichte wird vor allem aus der Perspektive Don Joses erzählt, der Carmen im Lauf der Handlung immer wieder ermordet. Aber Carmen durchlebt auch einen seltsamen Wiederauferstehungsprozess. Darin arbeitet diese Inszenierung (Bühne und Kostüme: Muriel Gerstner; Mitarbeit Kostüme: Eva Butzkies) mit den Mitteln der Tiefenpsychologie. Das Morden offenbart sich außerdem als Lustfantasie. Momente der Freiheit leben in diesem ebenso strengen wie sinnesfreudigen Spanien ebenso auf, obwohl Sebastian Nübling die spanischen Elemente nahezu ausblendet. Carmen trägt eine silberne Robe, ist mondän, leidenschaftlich. Sie besitzt in der ausgezeichneten Darstellung der Mezzosopranistin Stine Marie Fischer eine starke erotische Ausstrahlung. Vor allem das ausdrucksstarke Timbre in der Mittellage und Tiefe machen sie zu einer Idealbesetzung. Dadurch begreift man, wie sehr sich Don Jose in einer Krise seiner Männlichkeit befindet. Arnold Rutkowski gestaltet als kraftvoller Tenor Don Jose mit strahlkräftigen Spitzentönen. Eine hervorragende Besetzung ist auch die exzellente Sopranistin Esther Dierkes als Micaela, die den unglücklichen Don Jose zu seiner Mutter zurückführen will. Trotz nicht immer gelungener szenischer Einfälle macht Sebastian Nübling bei seiner Inszenierung gut deutlich, dass Don Jose tragischerweise nicht erkennt, dass eigentlich Micaela die richtige Frau für ihn ist. Aber der verblendete Don Jose möchte davon nichts wissen. Bei den entscheidenden Auseinandersetzungen mit Carmen blendet er Micaela einfach aus, setzt sie auf einen Stuhl, der zur Wand gedreht wird. Der Betrachter ist bei Carmen hier gleichsam Dreh- und Angelpunkt dessen, was Carmen sein darf und was nicht. Sie wird in der Inszenierung von Sebastian Nübling auch gefesselt, vermag sich aber rasch zu befreien. Man begreift als Zuschauer schnell, dass sie eine Frau ist, die sich nicht unterwirft. Dieses seltsamen Szenario konkreter Situationen offenbart die Lust am Besitz. Daran scheitert jedoch die Beziehung zwischen Carmen und Don Jose. Jose verliebt sich leidenschaftlich in eine Frau, die alles andere verkörpert als Normalität. Die Obsession Don Joses mutiert dabei zu einem Schlachtfeld der Gefühle (szenische Leitung der Wiederaufnahme: Judith Lebiez).

Der Spielraum ist die Wohnung des Don Jose. Es ist ein Zimmer, das sich zu einer „Passage“ der Sehnsucht entwickelt. In dieser Wohnung werden der rebellische Geist und der tote Körper Carmens gefangen gehalten. Und die dämonischen Clowns ergänzen die unheimliche Aura dieser Inszenierung. Die begabte estnische Dirigentin Kristiina Poska stellt die melodischen Qualitäten von Bizets Partitur dabei eindeutig heraus. Formsinn und Klarheit der Harmonik stechen bei dieser ausgefeilten Wiedergabe immer wieder beglückend hervor, die ebenso aufgrund ihrer erstaunlichen Sensibilität besticht. Die jeweilige seelische und dramatische Situation wird so genau erfasst. Und die leitmotivische Wiederkehr manifestiert sich in feinsten Klangzerlegungen, wobei auch die rhythmischen Elemente eine mitreissende Kraft besitzen. Dies überträgt sich natürlich auf die Sängerinnen und Sänger, die sich von dieser Dirigentin getragen fühlen. Andrew Bogard (Zuniga), Pawel Konik (Morales), David Steffens (Escamillo), Heinz Göhrig (Dancaire), Christopher Sokolowski (Remendado), Carina Schmieger (Frasquita) und Maria Theresa Ullrich (Mercedes) sowie Luis Hergon als Surplus bieten allesamt ausserordentlich gelungene Rollenporträts, die stark im Gedächtnis bleiben.

Schon das Orchestervorspiel des ersten Aktes versetzt das Publikum quadrillenhaft in die rasante Stimmung der Stierkampfarena. Zwischen geheimnisvollem Dur und Moll schwebt dann das Vorspiel zum zweiten Akt. Der Frieden der Natur vor der menschlichen Katastrophe im vierten Akt zeigt sich im Vorspiel des dritten Aktes („Arlesienne“). Der Fortissimo-Einsatz des Orchesters beim „Schicksalsmotiv“ mit der Ermordung Carmens im vierten Akt besitzt bei Kristiina Poskas Dirigat packende Präsenz. Zuvor war Don Joses Flehen durch leidenschafliche Melodik in b-Moll unterstrichen worden. Das unruhige Drängen der Musik vermag der Tenor Arnold Rutkowski als Jose mit stupender Technik zu verdeutlichen. In hochdramatischem Ton bekennt sich Stine Marie Fischer bei ihrem glanzvollen Rollendebüt als Carmen zu ihrer uneingeschränkten Freiheit. Der Gesang Carmens mit seiner herabgleitenden Chromatik besitzt dabei nicht nur bei der „Habanera“ etwas Rauschhaft-Hypnotisches. Diese Aufführung arbeitet im Rahmen der Urfassung des Werkes mit gesprochenen Dialogen. Im Finale des ersten Aktes betont die Dirigentin Kristiina Poska die Fugenexposition beim Eintreffen Zunigas sehr präzis. Dass das Thema dem Streitchor der Zigarettenarbeiterinnen entlehnt ist, spürt man sofort. Überhaupt legt die Dirigentin auf konzentrierte harmonische Analyse großen Wert, da bleibt nichts dem Zufall überlassen. Szenische Bewegungsvorgänge werden hier musikalisch packend dargestellt. Motivcharakterisierungen erhalten besonderes Gewicht. Die Video-Einlagen von Gabriele Vöhringer unterstreichen die vielfachen Obsessionen des Don Jose, denn ein imaginäres Auge beobachtet dabei via Bildschirm das tragische Geschehen. Gut gelungen sind auch die Szenen mit Chor und Kinderchor unter der souveränen Leitung von Bernhard Moncado. So gab es am Ende Jubel und rauschenden Schlussapplaus für den Staatsopernchor, das Staatsorchester, die Sänger und auch für die Dirigentin.

Alexander Walther

OPER GRAZ Giuseppe Verdi DON CARLO Premiere

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Die grausam von Folter entstellten Flandrischen Debütierten vor ihrer Hinrichtung. Dem König (Timo Riihonen)  graust, die Königin (Aurelia Florian) zerfließt in Mitleid  (Copyright Werner Kmetitsch)

OPER GRAZ
Giuseppe Verdi  DON CARLO

Samstag, den 28. September 2019
Premiere der Neuinszenierung


Im Seelenkerker

Keine Frage, das Los, von dem die Gräfin von Aremberg im 1. Akt betroffen wurde, nämlich strafweise in ihre Herrschaft in den Niederlanden zurück zu müssen, das war das beste was dieser adeligen Dame passieren konnte. Es bedeutete nichts anderes, als dem Habsburgischen Seelenkerker in Madrid entkommen zu sein, einer Enge und persönlicher Unfreiheit, einer dem Zeremoniell einer von Politik und Religion unterdrückten Hofgesellschaft, von der fast alle handelnden Figuren in diesem von Giuseppe Verdi veroperten Drama Friedrich Schillers schicksalhaft betroffen wurden.

Der aus Bristol stammende Designer Gideon Davey – wir kennen ihn als Ausstatter des Wozzeck im Theater an der Wien – baute diesen Seelenkerker in Form von verschiebbaren, kassettenartigen Wänden und Decken über die gesamte Breite der Bühne mit der Möglichkeit, relativ schnell die handelnden Personen dieses wie ein Figurenspiel ablaufenden Dramas einzuengen und einzuhausen und bildete sich so trotz einer sich laufend ändernder Raumanordnung der Charakter eines Einheitsbühnenbildes.

Posa (Neven Crnic) um die Königin (Aurelia Florian) besorgt, der König (Timo Riihonen) lauernd im Hintergrund (Copyright Werner Kmetitsch)

Für Ensembles wie etwa die Szene des Autodafés öffnet sich dann jeweils die Bühne mit entsprechend bebildertem Hintergrund. Ja, diese Autodafé-Szene, in seiner Bildwirkung wohl der Höhepunkt dieser Oper, ist trotz einfacher Gestaltung von grausigstem Eindruck, wenn nämlich die flandrischen Deputierten, von offensichtlich grausamster Folter und von Wunden entstellt und mit blutigen Leinenhemden bedeckt auf Tischen liegen wie auf einer Schlachtbank über die Bühne gezogen werden. Am Ende des von Phillipp II. mit sich steigernder Abscheu und Abwehr beobachteten Zuges dieser lebenden Leichen Gleichenden sitzt die sterbende Gestalt der „Stimme vom Himmel“. Und wenn auch die Details nicht unbedingt einer exakten Beurteilung ihres historischen und librettogemäßen Ablaufes standhalten, so ist der Symbolwert solcher Darstellung auf der Bühne für das Verstehen des Stoffes und dessen Wirkung von Wichtigkeit – das Regietheater lebt ja schon lange davon und propagiert solches!

Jetske Mijnssen, gebürtige Niederländerin und in Graz schon mit der Regie von Eugen Onegin betraut gewesen, bekannt für ihre stark musikorientierte Lesung der Stücke zeigte auch hier, bei der Inszenierung an der vieraktigen Fassung dieses Werkes eine interessante Personenführung, kein Wunder, ist doch die Besatzung des Madrider Königshauses schon immer für psychisch auffällige und psychotische Verhaltensweisen reif gewesen. Noch dazu verpasst die Regisseurin dem schon von der Musik her so unnahbar wirkenden Phillipp II zusätzlich noch eine auffällige homoerotische Passion für Marquis Posa, der sich der Umarmungen und Liebesbezeugungen seines Königs kaum erwehren kann.

Ehelicher Frust beim König (Timo Riihonen) Dieser wird von der Eboli (Oksana Volkova) getröstet (Copyright Werner Kmetitsch)

Timo Riihonen, hoher Bass aus dem hohen Norden – geboren im Finnischen Mikkeli – seinem hellen, manchmal hohl klingendem Timbre nach kein ausgesprochener Verdi-Sänger, hatte Mühe als Philipp II jene Wärme zu verbreiten, die eine Emphase für seine nächtlich beklagte Einsamkeit hervorrufen sollte. Und er hatte in der Auseinandersetzung mit dem Großinquisitor – Dmitrii Lebamba – schlechte Karten, was seine Tiefe anlangt, während er in der Höhe durchaus kräftige Töne von sich geben konnte. Prinzessin Eboli schien da zufrieden mit dem königlichen Liebhaber, denn sie saß während der ganzen morgendlichen Arie über die fehlende Liebe seiner Gattin auf seinem Schoß oder lag vor ihm auf dem Boden – eine neuartige und verbreitete Marotte seitens der Regien, solche stummen Zuhörer bei Solonummern einzubauen.

Das bosnische Mitglied des Grazer Ensembles Neven Crnic begeisterte als Posa das Publikum mit dem intensiven Einsatz seines gut klingenden Baritons in den Duetten ebenso wie in seiner Todesszene, genauso konnte Oksana Volkova als Eboli gefallen. Nur Mykkailo Malaffi sollte als Don Carlos mehr Mühe für ausgeglichenen Stimmeinsatz einbringen, gute Höhen allein genügen nicht. Erst im Duett mit Elisabetta im 4.Akt zeigte er, dass er auch mit guter Phrasierung aufwarten kann.

Die zu Dauertrauer verurteilte Königin wurde von Aurelia Florian dargestellt, die Sopranistin aus Rumänien ließ mit einer schön und ebenmäßig gesungenen Elisabetta aufhorchen. In Graz ist sie ja schon bekannt, als sie vor zwei Jahren in der Neuinszenierung von Puccinis La Rondine die Rolle der Magda sang. Und Tetiana Miyus berührte mit Gestaltung und Gesang der Stimme vom Himmel.

Oksana Lyniv führte mit ihren bekannt ruhig und souverän wirkenden Bewegungen die Grazer Philharmoniker und den von Bernhard Schneider einstudierten Chor durch die Partitur. Waren es die anfangs noch etwas unsicher wirkenden Chor- oder Bläsereinsätze oder so manche nicht genügend ausdifferenziert wirkende Tempowahl bei den Vorspielen der Grund, beim Schlussapplaus gleich einige Buhrufe beim Erscheinen der musikalischen Leitung loszulassen? Wohl kaum, denn die musikalische Unterfütterung des Seelendramas gelang der jungen Dirigentin mit den Grazer Philharmonikern ganz ausgezeichnet und mit authentischem Verdisound.

 

Peter Skorepa
OnlineMerker
27.9.2019

 

Diese Premiere an der Oper Graz wurde dem erst am Tag zuvor verstorbenen Stimmführer der Zweiten Geiger der Grazer Philharmoniker Izumi Hasebe gewidmet. Der Künstler war 41 Jahre lang Mitglied dieses Orchesters.

 

WIEN / Staatsoper: LA BOHÈME von Giacomo Puccini

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Auda Garifullina als Mimi. Foto: Wiener Staatssoper / Michael Pöhn

WIEN / Staatsoper:  Aida Garifullinas Rollendebut als Mimi in LA BOHÈME

438. Aufführung in dieser Inszenierung

29. September 2019

Von Manfred A. Schmid

Im Oktober 2017 stand sie noch als Musetta auf der Bühne der Wiener Staatsoper, nun wendet sich die russische Sopranistin Aida Garifullina im Haus am Ring, wo 2014 ihre internationale Karriere den Anfang nahm, erstmals der Partie der Mimi zu. Ihre anmutige Gestaltung der um Wärme, Zuneigung und schieres Überleben kämpfenden, todkranken Näherin liefert – wieder einmal – den schlagenden Beweis dafür, dass nirgends so schön gestorben wird wie bei Puccini. Wenn man ihre rührenden letzten Minuten in der armseligen Künstler-WG miterlebt, dann glaubt man der Beteuerung des Komponisten, dass er bei der Abfassung dieser Szene selbst in Tränen ausgebrochen sei. Garifullina weiß genau, wie sie diese zarte, zerbrechliche Figur anlegen muss. Demütig, innig und schlicht, und dennoch so voll der Hoffnung auf ihren bescheidenen Anteil am kleinen Glück. Mit ihrem hellen, glockenreinen Sopran verfügt sie über eine Stimme, die alles leicht erscheinen lässt. Ganz besonders bewährt sie sich – um Großmut bemüht und voll Verständnis für die emotionalen Schwierigkeiten, die ihr heißgeliebter, eifersüchtiger Rodolfo in ihrem Beziehungs-Auf-und-ab durchleben muss – im 3. Akt. Eingebettet in einer kalten Winterlandschaft – und doch so von menschlicher Wärme durchpulst, was auch an der anteilnehmenden Vermittlerposition von Rodolfos Künstlerfreunds Marcello liegt. Adrian Eröd verleiht dem Maler eine unverwechselbare Kontur und ist auch stimmlich eine Freude.

Jinxu Xiahou als jugendlich-entflammter Rodolfo ist eine recht gute Hausbesetzung, sieht sich im 1. Akt in der Höhe aber zu einigem Kraftaufwand gezwungen. Ein feiner lyrischer Tenor, dem an diesem Abend zudem einige Intonationsschwierigkeiten und auch ein „Kickser“ unterlaufen. Die aus Tasmanien stammende Sopranistin Bryony Dwyer kam gleich nach Abschluss ihres Gesangsstudiums an die Wiener Staatsoper, hat aber alsbald die kluge Entscheidung getroffen, „in der Provinz“ ihr Repertoire zu erweitern. Nun ist sie wieder hier gelandet und als bemerkenswerte Musetta im Einsatz. Eine selbstbewusste Frau, die ihre Reize gekonnt einsetzt, deren Wirkung auf die Männerwelt auskostet und auch stimmlich überzeugt. Der 2. Akt gehört ihr – sowie dem Kinderchor und den Chören der Wiener Staatsoper, die das bunte Treiben im weihnachtlichen Quartier Latin mit ausgelassenem Leben füllen.

Da der angekündigte Moldawier Mihail Dogotari krankheitshalber ausfällt, kommt der bewährte Hausbariton und exzellente Rollengestalter Clemens Unterreiner als umtriebiger Schaunard zum Zug. Jongmin Park als Colline singt mit seinem kraftvollen, einschmeichelnden Bass die „Mantelarie“ mit Inbrunst. Gesanglich imponierend, aber ohne jede Spur von hinterfragender Ironie, die hier vielleicht nicht ganz fehl am Platz wäre. Markus Pelz ist ein schusseliger Benoit sowie ein gutmütiger Alcindor, der von der lebenslustigen Künstlerschar und ihren Damen ebenso übertölpelt wird wie zuvor schon der Hausherr.

Das Staatsopernorchester unter der Leitung von Louis Langrée spielt mit Animo und Leidenschaft, doch die Koordination zwischen Orchestergraben und Bühne will nicht immer makellos gelingen. An einem wirklich gelungenen Opernabend schrammt diese Aufführung – in der immer noch überraschend gut funktionierenden Regie und Bühne des unvergessenen Franco Zefirelli – vorbei. Trotzdem viel Beifall und Jubelrufe – und einige auf die Bühne segelnde Blumensträuße. Für die Garifullina natürlich


DÜSSELDORF/ Deutsche Oper am Rhein: TOSCA. Wiederaufnahme

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Giacomo Puccini: Tosca, Deutsche Oper am Rhein, Opernhaus Düsseldorf, Vorstellung: 29.09.2019

 (3. Vorstellung seit der Wiederaufnahme am 08.09.2019)

Big brother is watching you

Auch wenn Dietrich W. Hilsdorfs Inszenierung der «Tosca» bald 20 Jahre alt ist (Premiere in Duisburg am 16.02.2002), wirkt sie frisch wie am ersten Tag. Hilsdorf geht der Opulenz nicht aus dem Weg und zeigt den ersten Akt ganz klassisch im Kirchenraum. Die Madonnenstatue ist schon vor dem Vorhang zu sehen, ebenso links und rechts am Portal je ein Auge aus einem Fresko des Kirchenraums), das die ganze Oper über bleibt (Bühne und Kostüme: Johannes Leiacker). Im zweiten Akt zeigt eine Vedute im Hintergrund Engelsburg und St.Peter. In einem nicht weiter definierten Innenraum steht ein schlichter Tisch, an dem gegessen, aber auch gefoltert wird. Bevor Angelotti gehängt wird, und im dritten Akt an die berühmte Leiche von der Mailänder Tankstelle erinnernd auf der Bühne hängt, ist er auch noch dabei. Er riecht sein Henkersmahl, aber essen darf er nicht. Vor dem dritten Akt wird die Vedute nach oben gezogen und gibt den Blick auf die Hinterbühne mit den Bühnenbildelementen des ersten Akts frei. Ganz klar Theater im Theater, denn der erdolchte Scarpia wohnt auf seinem Stuhl am Tisch dem ganzen dritten Akt bei.

Eine Inszenierung eng am Libretto, dabei aber nie museal, die Opulenz zulässt und bewusst einsetzt.

Die Düsseldorfer Symphoniker unter Leitung von Aziz Shokhakimov überzeugen mit sattem, schwelgerischen Puccini-Klang. Auch hier stimmt wieder alles.

Formidabel auch der von Patrick Francis Chestnut vorbereitete Chor der Deutschen Oper am Rhein und der Kinderchor St.Remigius (Leitung: Petra Verhoeven).

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Morenike Fadayomi; Foto: Hans Jörg Michel

Morenike Fadayomi bringt die Floria Tosca grossartig auf die Bühne. Immer etwas Diva, aber nie übertrieben, mit grosser Stimme, die das Haus problemlos füllt, aber nie unangenehm wirkt. Ihr Cavaradossi, der ihr stimmlich in Nichts nachsteht, ist mit wunderbar strahlendem Tenor Eduardo Aladrén. Dritter im Bund ist Lucio Gallo, der einen gleichermassen eleganten wie bösen Baron Scarpia gibt. Baurzhan Anderzhanov gibt einen stimmkräftigen Angelotti, Peter Nikolaus Kante einen routinierten Mesmer. Cornel Frey (Spoletta), Andrei Nicora (Sciarrone) und Anna Mamutscharachwili (Tosca als Kind) ergänzen das Ensemble des Abends.

Ein grossartiger Abend in einem leider nur sehr spärlich besetzten Haus.

Weitere Aufführungen: 04.10.2019, 11.10.2019, 12.01.2020, 02.04.2020, 10.05.2020, 16.05.2020 und 03.06.2020 jeweils im Opernhaus Düsseldorf.

29.09.2019, Jan Krobot/Zürich

DUISBURG/ Deutsche Oper am Rhein: PIQUE DAME. Premiere

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Peter Iljitsch Tschaikowsky: Pique Dame, Deutsche Oper am Rhein, Theater Duisburg, Premiere: 28.09.2019

 (Premiere Düsseldorf: 25.05.2019)

 

Pique Dame goes Hollywood

Die amerikanische Regisseurin Lydia Steier hat für Ihre Inszenierung von Tschaikowskys Lieblingsoper «Pique Dame» die Gegenwart/jüngere Vergangenheit als Zeitebene gewählt. Sie lässt die Oper nach einer Vorlage Puschkins im Hollywood der 50er- Jahre spielen. Bärbl Hohmann (Bühne) hat den Garten einer Hollywood-Villa inklusive Pool auf die Bühne gebracht. Die passenden, höchst ästhetischen Kostüme dazu stammen von Ursula Kudrna.


Foto: Hans Jörg Michel

Die zeitliche Verschiebung passt bestens: Die Oper für den Jetset des 19. Jh., die den Jetset des 18. Jh. zeigt, wird hier dem Publikum des 21. Jh. mit dem Jetset des 20. Jh. gezeigt. Die Gartenlandschaft der Bühne besteht aus verschiedenen Ebenen, so dass vermittelst Vorhängen Räume wie eine kleine Bühne für das Pastorale oder das Zimmer der Gräfin abgetrennt werden können.

Im zweiten Teil ist die Gartenlandschaft weitgehend verschwunden, die hochgeklappte Brücke über den mit einer Versenkung dargestellten Kanal des 6. Bildes dominiert die Bühne. Ein Podest mit Bett und ein langsam drehender Rotor stehen für Hermanns Zimmer. Die Spielhölle des letzten Bildes kommt aus der Versenkung, steigt aus dem Kanal auf, in dem Lisa sich eben ihr Leben genommen hat.

Steier kann so die Geschichte eng am Libretto erzählen, ohne dass die Verschiebung störend wirkt (hätte sie auch bei lesbaren Übertiteln nicht) und entwickelt so einen Zug, der bis zum Schluss nicht mehr loslässt.


Foto: Hans Jörg Michel

Tschaikowskys Musik ganz hervorragend umgesetzt, man möchte fast sagen verinnerlicht, haben die Duisburger Philharmoniker unter Aziz Shokhakimov und der Chor der Deutschen Oper am Rhein (vorbereitet von Gerhard Michalski) und die Akademie für Chor und Musiktheater. Hier bleiben keine Wünsche offen.

An der Spitze der Riege der Solisten sind Natalia Muradymova als Lisa und Sergej Khomov als Hermann zu nennen. Muradymova überzeugt mit wunderschönen Farben und dramatischem Impetus, Khomov mit seinem Heldentenor ohne aber je eintönig oder indifferent zu werden. Beide Stimmen harmonierten perfekt und beide Solisten erreichen auch als Paar entsprechende Bühnenpräsenz. Als Fürst Jeletzki überzeugt der Mexikaner Jorge Espino mit profundem Bariton, als Gräfin Renée Morloc. Auch die weiteren Solisten lassen keine Wünsche offen: Anna Harvey als Polina / Milowzor und Daria Muromskaia als Mascha / Prilepa wie auch Stefan Heidemann als Graf Tomski / Slatogor, Johannes Preissinger als Tschekalinski, Bruno Vargas als Surin und Andrés Sulbarán als Tschaplitzki. Das Ensemble ergänzen Andrei Nicoara als Narumow, Luis Fernando Piedra als Zeremonienmeister und Philipp Vorjohann als Der Aufsteiger.

Eine grossartige Leistung, die Lust auf weitere Begegnungen mit diesem Haus macht!

Weitere Aufführungen: 03.10.2019, 16.10.2019 und 18.12.2019 jeweils im Theater Duisburg

29.09.2019, Jan Krobot/Zürich

OPER GRAZ: DON CARLO. Musikalisch und szenisch überzeugendes Kammerspiel!

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OPER GRAZ: DON CARLO – Premiere am 28.9.2019
Musikalisch und szenisch überzeugendes Kammerspiel!

28.09.2019 (Premiere und Saisoneröffnung)


Foto: Werner Kmetitsch/ Oper Graz

Es sei gleich vorweg gesagt: das war eine großartige Saisoneröffnung und für mich eine der überzeugendsten Grazer Produktionen der letzten Jahre – da haben sich ausgezeichnete musikalische Leistungen mit einer konsequent-schlüssigen szenischen Umsetzung zu einem großartigen Ganzen zusammengefügt – Gratulation!

https://www.deropernfreund.de/graz-12.html

 

Hermann Becke (www.deropernfreund.de)

Film: NOBADI

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Filmstart: 4. Oktober 2019
NOBADI
Österreich / 2019
Drehbuch und Regie: Karl Markovics
Mit: Heinz Trixner, Borhanulddin Hassan Zadeh u.a.

Mit davor zwei Filmen als Regisseur hat sich Karl Markovics über seine exzellenten darstellerischen Qualitäten hinaus auch als Filmemacher einen bemerkenswerten Ruf erworben. Entsprechend groß war das Interesse an seinem dritten Film, für den er auch ein Thema gewählt hat, wie es aktueller – und in den Zeitgeist passender – nicht sein könnte.

Alter Nazi, junger Flüchtling. Nur dass nicht die übliche Gutmenschenvariante gewählt wird, wenn der alte, einsame Heinrich Senft (knorrig, hart und mit den Widersprüchen seiner Rolle kämpfend: Heinz Trixner) sich den jungen Afghanen, der in seiner Heimat „Nobadi“ genannt wurde (Borhanulddin Hassan Zadeh – sympathischer kann man nicht sein), in seinen Schrebergarten mitnimmt, um mit dessen Hilfe seinen Hund zu begraben. Und auch noch – um möglichst wenig Geld – seinen Garten richten zu lassen.

Da der Afghane hervorragend Deutsch spricht (in seiner Heimat war er in einem UNO-Lager für die Deutschen tätig), steht der verbalen Kommunikation nichts im Wege, wenn da auch die Unfreundlichkeit des alten Österreichers gegen den hilflosen Flüchtling schmerzlich klar wird. Aber nicht unglaubwürdig. Das kommt allerdings sehr bald – geradezu als „Zumutung“ auf den Zuschauer zu. Allerdings anders, wie es Markovics in vielen Interviews geschildert hat.

Natürlich will uns Karl Markovics etwas über Verantwortung sagen. Die Verantwortung des Menschen für seinen Mitmenschen, auch wenn er nicht derselben Familie, demselben Volk angehört. Aber weil ein solches Thema im Rahmen eines Films nun wirklich nicht ausdiskutiert werden kann, muss man sich an die emotionale Seite halten. Und wenn dann ein Flüchtling wie dieser so auf Anhieb sympathisch, jung, gescheit und un-aggressiv ist, so gut Deutsch spricht und – das schmerzt einen in der Seele – so sehr gelernt hat, sich zu ducken und nicht zu widersprechen, um nicht aufzufallen und expediert zu werden… das zerreißt einem schon das Herz. Da versteht man Leute wie die Hartmanns (in dem Verhoeven-Film), die sich unbedingt einen Flüchtling ins Haus holen („zulegen“) wollen („Kann man sich da einen aussuchen?“ – am Ende wie im Tierheim?).

Kurz, im Kino und in den Medien trifft man immer auf die wunderbaren Menschen. („Ich will bitte einen solchen wie bei Markovics!“) Gibt es keine berechtigten Zweifel, an die „anderen“ zu geraten (wie unter Landsleuten auch)? Und schon kommen Zweifel daran auf, wie letztendlich manipulativ und vereinfachend Markovics uns sein Problem nahe bringen will.

Die Interaktion zwischen dem alten, misstrauischen Mann und dem hilflosen Flüchtling vereinfacht Markovics zwar keinesfalls, aber mit der Psychologie hapert es: Dass der Alte, der eigentlich froh ist, den jungen Arbeiter wieder loszuwerden, sich plötzlich dessen annimmt und sich geradezu aufopfernd um den Kranken kümmert – man glaubt es nicht.

Und dann nimmt das Drehbuch eine Wendung, die der Regisseur einfach nicht verkaufen kann. „Ich weiß, dass ich von Zuschauern sehr viel verlange“, sagte Markovics in einem seiner vielen Interviews zu „Nobadi“, aber er verlangt vor allem Blauäugigkeit für eine Story, deren Glaubwürdigkeit ebenso hinkt wie ihre Aussage.

Der Flüchtling hat sich das Bein verletzt. Unser Alter war einmal Sanitäter „in einem Lager“ (ob es ein Vernichtungslager war oder „nur“ ein Lager, wo man Menschen sterben ließ, wird nicht gesagt). Markovics hat mit Absicht keinen Arzt aus ihm gemacht, sonst wäre dieser Schrebergarten-Mann ja ein Intellektueller, und das würde eigentlich nicht passen.

Dieser Film ist kein Krimi, sondern ein Lehrstück, man muss also keine Angst vor Spoilern haben, zumal ja auch Wikipedia die Handlung schildert. Der Flüchtling hat keine Papiere, will nicht ins Spital. Der alte Mann will die Tierärztin seines verstorbenen Hundes zwingen, den Jungen zu verarzten. Sie weigert sich – er bringt sie um. So mir nichts, dir nichts, einfach um ihr seinen Willen aufzuzwingen. Da übertreibt er halt mit der Gewalt. Aber er bricht nicht etwa in die Knie, wie es jeder normale Mensch täte, dem ein Mord aus Zorn „passiert“, sondern stopft ungerührt die Tasche mit Medikamenten voll (offenbar kennt er sich in der Praxis gut aus?) und bringt den Jungen wieder zu sich ins Schrebergartenhaus.

Und dort, höre und staune, geht er daran, zu dessen Rettung (Wundbrand vermutlich), dessen Bein abzuschneiden – und hat für diese Operation nicht nur eine elektrische Säge, sondern auch Material für eine Bluttransfusion bei der Hand. Außerdem muss sich hier noch die Aussage verdichten. Interessanterweise hat der alte Mann, der uns nicht verrückt, aber doch eher „einfach“ vorkommt (höhere Schulbildung steht da nicht dahinter), dennoch im Lager von einem kranken jüdischen Häftling eine so genaue Kenntnis der „Odyssee“ mitbekommen, dass er sie aufsagen und ihre Geschichte erzählen kann…

Nein, es erstaunt nicht, dass der „Nobadi“-Flüchtling (sprich: Nobody) sich anhören muss, dass auch Odyssseus sich bei Polyphem als „Niemand“ ausgab. Die Parallele ist zu schön. Und dass der junge Mann im Morphium-Rausch dann in seiner Muttersprache erzählt, was ihm in der Heimat Grauenvolles widerfahren ist (der Kinobesucher muss es in den Untertiteln mitlesen) – auch das riecht nach Drehbuch und Agitprop. Ja, man weiß schließlich, was hier auf die schlichtest mögliche Weise gesagt werden soll. (Peter Turrini hat es in dem Stück „Fremdenzimmer“ mit ähnlichen Mitteln, aber weniger Pathos versucht.)

Ja, und dann geht die Geschichte so schlecht aus wie irgend möglich. Tolle Symbole – der Flüchtling hat ein paar Stunden davor selbst noch die Grube gegraben, in welcher der Alte ihn verscharrt. Was hat uns Markovics am Ende gesagt? Dass das verspätete Mitgefühl nichts gebracht, schlimmer noch, zum Tode geführt hat? Sicher, jede positive Aussage der Versöhnlichkeit zwischen den Welten hätte vermutlich nur triefend ausfallen können. Aber diese?

Natürlich, die Hauptdarsteller spielen das fabelhaft. Aber muss man vor „Nobadi“ wirklich in die Knie gehen, wie die Kritik es überall tut, nur weil der Regisseur die richtige Einstellung und ein mitfühlendes Herz hat? Wenn es so einfach wäre…

Renate Wagner

Film: DEUTSCHSTUNDE

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Filmstart: 4. Oktober 2019
DEUTSCHSTUNDE
Deutschland / 2019
Regie: Christian Schwochow
Mit: Levi Eisenblätter / Tom Gronau, Ulrich Noethen, Tobias Moretti, Johanna Wokalek u.a.

Wer 1968 noch jung war, aber alt genug für Reflexion, für den mochte der Roman „Die Deutschstunde“ von Siegfried Lenz so etwas wie ein Augenöffner gewesen sein. Deutschland war so sehr mit seinem Wirtschaftswunder und seinem Zukunftsglauben beschäftigt, dass man die Vergangenheit nur zu gerne hinter sich gelassen hatte – die penible Aufarbeitung begann erst später. Und da war nun plötzlich dieser Roman.

Dabei ging es Siegfried Lenz in seiner Geschichte nicht um die vordergründigen Gräuel des Nationalsozialismus zwischen Judenverfolgung und Todeslager, sondern um eine gewissermaßen ganz alltägliche Geschichte. Und vor allem um das Bewusstsein der Menschen damals – jener, die das Regime ermöglicht hatten, und jener, die trotz ihres inneren Widerstands nichts verhindern konnten… Wie die Ideologie ganz selbstverständlich die Menschlichkeit, die Mitmenschlichkeit, die Gefühle auslöschte. Und alle ihr Handeln für richtig erachteten.

An sich wird das Buch und der Film, den Christian Schwochow (nach einem hoch intelligenten Drehbuch seiner Mutter Heide Schwochow) geradezu ingeniös inszeniert hat, von „Siggi“ erzählt – dem knapp 20jährigen Siggi Jepsen, der sich in einer Besserungsanstalt befindet und (anhand eines Aufsatzes über „Die Freuden der Pflicht“) zurückdenkt, an zehn Jahre davor. Und an seinen Vater. Und an seinen „Onkel“, den Maler, Und daran, wie die Welt damals war.

Dort, im sehr einsamen, sehr nördlichen Schleswig-Holstein, wo Siggis Vater Jens Jepsen, damals im Jahr 1943, Polizist im Dienst des Nationalsozialismus war. Ein sehr überzeugter. Einer, für den es Selbstverständlichkeit und Ehrensache war, „seine Pflicht zu tun“. Selbst wenn diese Pflicht bedeutete, dem eigenen Jugendfreund, dem Maler Max Nansen, ein Arbeitsverbot zu überbringen und dessen Einhaltung zu überwachen. Was Jepsen ganz ohne „laissez faire“ mit eiserner Entschlossenheit durchzieht. Wenn die NS-Behörden befinden, dass Nansens Werke „entartete Kunst“ sind, dann findet Jepsen das auch. Man stellt die Autoritäten nicht in Frage.

Und wenn der eigene älteste Sohn sich als Deserteur zuhause verstecken will, liefert er ihn den Behörden aus: die Freuden der Pflicht, für Jepsen selbstverständlich. Der auch schon auf Gattin, Tochter und den kleinen Siggi einprügelt, wenn diese sich nicht konform verhalten… Er würde nie auf die Idee kommen, dass er Unrecht tut. Er ist schließlich von seiner Pflicht überzeugt – und tut sie.

Der zehnjährige Siggi ist ein „Go between“ zwischen Vater und dem Maler, dem er herzlich zugetan ist und vice versa. Dessen Bilder ihm so nahe gehen, dass er sie versteckt, damit sie nicht abtransportiert werden. Der Widerstand des Jungen gegen den Vater wächst, aber ein Kind hat nur wenige kleine Tricks sich zu wehren (wie das verlassene jüdische Haus, das er findet und wohin er sich zurückziehen kann). Er muss zusehen, wie erst die Bilder, dann der Maler abtransportiert werden. Wie dieser zurückkommt, aber dessen Frau den Terror nicht ertragen hat und stirbt.

Und als irgendwann alles zu Ende ist und die Amerikaner den kopfschüttelnden Vater abführen – ja, da kommt dieser bald wieder. Offenbar hat er alle überzeugen können, dass er nur als kleiner Mann seine Pflicht und niemandem etwas Böses getan hat. Und er ist vollkommen unverändert, uneinsichtig derselbe, der er immer war… sicher auch eine Aussage, zumal 1968, wo all diese Menschen noch nicht wirklich alt waren…

Der Regisseur vermeidet jegliche Vordergründigkeit, der Nationalsozialismus springt nicht grell in die Augen, wie sollte er auch in einem kleinen Dorf im Norden. Er ist im Grunde nur in Siggis Vater da – und verbreitet stillen Terror. Christian Schwochow lässt sich für seinen Film wunderbar Zeit, fährt lange über die Landschaft, das Meer, zeigt Wind, Wellen, Kälte, Einsamkeit. Der Symbolgehalt der Landschaft ist bedeutend, die Holzschnitthaftigkeit, mit der die Menschen agieren, geht unter die Haut.

Es ist ideal, einen Mann wie jenen starren Polizisten mit einem Schauspieler wie Ulrich Noethen zu besetzen, der so gerade und korrekt wirkt und dabei so gnadenlos sein kann, ohne seine absolute Selbstverständlichkeit zu verlieren. Und auch Tobias Moretti unterspielt den Maler mit dem tragischen Schicksal, geht unemotional mit seinem Schicksal um: Es sind stille Menschen, dort im Norden. Und doch ist klar, dass sich hier eine Tragödie abspielt, die erst in den Köpfen der Menschen und dann in der blutigen Wirklichkeit ausgefochten wird.

Ganz wunderbar die beiden Siggis, Levi Eisenblätter als der zehnjährige Siggi, der gegen den väterlichen Terror immer instinktiv das Richtige tut, und Tom Gronau, der als Zwanzigjähriger nach dem Erlebten dann doch ein zutiefst verstörter junger Erwachsener geworden ist. Eine wahre Tragödie (ohne auf billige Weise „aufzudrehen“) liefert Johanna Wokalek als Nansens unerschütterlich loyale Frau.

Dass Siegfried Lenz mit Nansen damals Emil Nolde meinte, von dessen nationalsozialistischen Neigungen – obwohl er als „entartet“ verfemt wurde! – man zu dieser Zeit noch nichts wusste, spielt für den Film absolut keine Rolle. Es geht auch nicht ausschließlich um den Nationalsozialismus, sondern um das starr verbogene Bewusstsein von Menschen, die zwischen richtig und falsch nicht unterscheiden können und wollen. Die sich jeder Einsicht verweigern. Und die soll es auch heute noch geben…

Die mehr als zwei Stunden des Films mögen manchem lang erscheinen. Aber auch die Ruhe des Erzählens trägt zu seinem Rang als filmisches Meisterwerk bei.

Renate Wagner

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