
Katerina Tretyakova, Wilfried Zelinka, Jesús Léon und der ungenannte Hirsch. Foto: Oper Graz / Werner Kmetitsch
GRAZ / Opernhaus: ROMÉO ET JULIETTE von Charles Gounod
25.10. 2019 (die Wiederaufnahme der Inszenierung aus 2016/12 waram 5. 10. 2019)
Von Manfred A. Schmid
Die Aufführung von Charles Gounods Roméo et Juliette wird in Graz von freundlichen Worten der Intendantin Nora Schmid eingeleitet, findet sie doch am erstmals ausgerufenen „Welttag der Oper“ statt. Auch dynach geht es nicht gleich in medias res, sondern im Prolog tanzt zunächst ein junges Paar, zur Einstimmung auf die berühmteste tragisch endende Liebesgeschichte der Weltliteratur, und ein junges Mädchen führt vor, wie Juliette als Kind den zeitgenössischen Erziehungsmethoden ausgeliefert ist. Sowohl die Tänzer, choreographiert von Beate Vollack, wie auch das Mädchen kommen in weiterer Folge – so will es der Regisseur Ben Baur – noch mehrmals zum Einsatz. Was das zur Erhellung des Geschehens und der handelnden Charaktere beitragen soll, will sich einem nicht so recht erschließen, stört aber – wie auch die später zu sehende, genuin zur Tradition der französischen Grand Opéra gehörende Ballettszene, die als gespenstischer danse macabre vorgeführt wird – weiter nicht.
Insgesamt wirkt die Inszenierung aus der Saison 2016/17 in der vorliegenden Wiederaufnahme durchaus gelungen und frisch. Die Verlegung in das ausklingende 19. und beginnende 20. Jahrhundert, wie auch die Übersiedlung von Verona in eine an Downtown Abbey erinnernde englische Umgebung (mit einem imposant auftretenden Heer von ernstgesichtigen Dienstmädchen) soll wohl zum Ausdruck bringen, dass sich Shakespeares Liebestragödie immer und überall ereignen könnte. Um das zu unterstreichen, gibt im vorliegenden Fall auch schon Gewehre. Warum aber bei der Auseinandersetzung zwischen den Capulets und den Montagues zudem ausgerechnet Schlagstöcke verwendet werden, bleibt schleierhaft. Das gehörte wohl eher zur asiatischen, damals bei den Briten wohl kaum schon praktizierten Kampfsportart Kendo. Aber vermutlich ist auch in Japan das Romeo und Julia-Thema nicht fremd. Sei’s drum.
Ben Baur legt seiner Inszenierung eine kammerspielartige Herangehensweise zugrunde. Indem er den Focus auf das zentrale Paar und seine starke, selbst den Tod nicht scheuende Liebesgeschichte legt, die nur sporadisch von gesellschaftlichen und innerfamiliären Interventionen unterbrochen bzw. in Frage gestellt wird, setzt er ganz auf die Zugkraft des Themas. Da ihm für Romeo und Julia zwei überaus fähige Besetzungen zur Verfügung stehen, geht diese Rechnung voll auf. Jesús León ist als Roméo ein rasch entflammter latin lover, steht seiner geliebten Braut aber auch fürsorglich und verantwortungsbewusst gegenüber, sobald er von ihren innerfamiliären Konflikten und den gesellschaftlichen Zwängen, die ihrer Beziehung entgegenstehen, erfährt („Nuit d’hymenée, Ô douce nuit d’amour“). Sein höhensicherer, jugendlich-strahlend klingender tenore di grazia macht den jungen Mexikaner zu einem hoffnungsvollen Aspiranten für ein Aufrücken in die Riege der international geschätzten mexikanischen Tenöre Francisco Araiza, Rolando Villazon (in seiner besten Zeit) und Ramon Vargas. Dass León am Anfang den Spitzenton zweimal um gut einen Viertelton verfehlt, ist wohl nur der Tagesverfassung zuzuschreiben.
Die russische Sopranistin Katerina Tretyakova, jahrelanges Ensemblemitglied der Staatsoper Hamburg, wo sie u.a. als Lucia, Gilda, Adina, Susanna und Pamina zum Einsatz kam, ist eine koloraturgewandte Juliette. Obwohl sich ihre samtig-dunkle Stimme zum dramatischen Sopran hin entwickelt, gelingt es ihr, den jugendlichen Überschwang und die leichtfüßige Lebensfreude im Walzerlied „Je veux vivre“ trefflich zum Ausdruck zu bringen. Auch darstellerisch ist die Sängerin, die im Frühjahr als Donna Anna zu hören und sehen sein wird, eine wahre Freude. Die Duette mit ihrem Geliebten sind von zärtlicher Leidenschaft (in „Ah! Ne fuis pas encore“) und schmerzerfüllter Innigkeit (in „Viens, fuyons au bout du monde“) geprägt.
Die Partie des verständnisvollen Bruder Laurent ist mit dem profunden Bass Wilfried Zelinka bestens besetzt. Aus dem Ensemble herausragend sind weiters Markus Butter als Capulet, Christine Bader als Gertrude und Taylan Reinhard als Tybalt zu nennen.
Weitere auffallende Akteure? – In der Toröffnung der ebenfalls vom Regisseur Ben Baur stammenden Bühne – eine halbrunde, hochragende Mauer, die an das Innere eines Pantheons erinnert (noch eine Anspielung auf die zeitenthobene Aktualität des Stoffes?)– taucht in der bereits erwähnten, gespenstisch arrangierten Ballettszene ein Schimmel auf. Als Reiter den Tod (es gibt zusätzlich auch eine Tödin) auf dem Rücken tragend. Der Besetzungszettel nennt den Namen des Pferdes: Vinatero. Da Vinatero aber weder singt noch wiehert, bekommt er vermutlich keine Gage. Selbiges gilt vermutlich auch für den monumentalen Hirsch, der einmal, Geweih nach unten an einem Haken hängend, von der Decke baumelt und die Zuschauer wohl zum ewigen Rätselraten über seine Rolle anregt. (Von einem Merker-Kollegen, der 2016 bei der Grazer Premiere dabei war und berichtet hat, wurde mir aufgetragen, genau aufzupassen und das Geheimnis von Pferd und Hirsch zu lüften. Ist mir leider nicht gelungen.) Im Unterschied zu Vinatero hat der Hirsch keinen Namen, ist nicht auf dem Programmzettel angeführt und tot. Da später drei Gesellen im Totentanz-Ballett ein Hirschgeweih auf dem Kopf tragen, fragt man sich, wo die beiden anderen Spender verblieben sind.
Markus Burkert ist ein Kapellmeister, der am Pult der Grazer Philharmoniker den melancholisch getönten Duktus von Gounods Musik plastisch herausarbeitet. Er löst mit seiner Interpretation Gounods selbstbewusste Ankündigung – „Der erste Akt endet brillant; der zweite zart und träumerisch; der dritte lebhaft, groß und breit, mit den Duellen und dem Bannspruch über Roméo; der vierte dramatisch; der fünfte dramatisch“ – trotz einiger kleinerer Unebenheiten weitgehend ein.
Gedankt wird im ziemlich vollen Opernhaus mit freudigem Beifall und – wie schon während der Vorstellung – auch mit starken Bravo-Rufen. Bemerkenswert und erfreulich die große Zahl von offenbar ziemlich begeisterten Jugendlichen im Publikum.
26.10.201