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BIETIGHEIM/ Kronen-Zentrum: BELLA FIGURA von Yasmina Reza

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Foto-Copyright: Loredana La Rocca

„Bella Figura“ von Yasmina Reza mit dem Euro-Studio Landgraf am 22.1.2020 im Kronenzentrum/BIETIGHEIM-BISSINGEN

Alles außer Kontrolle

„Ein Mann, der vor die Hunde geht, sollte dies in aller Stille tun“. Dieses Bonmot ist bezeichnend für die hintersinnige Beziehungskomödie in sechs Bildern von Yasmina Reza. Heio von Stetten mimt hier gekonnt den von Firmen-Insolvenz bedrohten Mittvierziger Boris Amette, der mit seiner Geliebten Andrea (facettenreich: Julia Hansen) in einem schicken Restaurant Essen gehen möchte. Er erzählt ihr jedoch, dass seine Ehefrau ihm das angesteuerte Restaurant empfohlen hat. Der langjährige Fremdgeher versucht diesen Fauxpas zu vertuschen. Doch beim Verlassen des Parkplatzes fährt er die von Doris Kunstmann souverän und mondän zugleich gespielte zukünftige Schwiegermutter von Francoise Hirt (mit vielen Nuancen: Nina Damaschke) an, der besten Freundin seiner Frau. Und von da an ist nichts mehr so, wie es war.

Dies arbeitet der Regisseur Thomas Goritzki mit der Ausstattung von Stephan Mannteuffel eindringlich, rasant und turbulent zugleich heraus. „Ich habe atemberaubende Verandas gebaut – und dann ist die Bauaufsicht gekommen und hat meinen Kunden gesagt, dass sie gegen die Vorschriften verstoßen. Wenn sie mich mit meinem Privatvermögen für den Schaden haftbar machen, bin ich geliefert“, jammert Boris. Zu allem Unglück kommt jetzt noch der verflixte Unfall hinzu. Doch zum Glück ist der alten Dame nichts passiert. Auf der Bühne sieht man ein rotes Auto, auf dessen Kühlerhaube man die Verunglückte setzt, damit sie sich ausruhen kann. Andrea und Boris stehen aber plötzlich vor der genervten Francoise, ihrem Freund Eric (sehr exaltiert: Boris Valentin Jacoby) und dessen desorientierter Mutter Yvonne. Peinlichkeiten und Fettnäpfchen werden jetzt nicht mehr ausgelassen. Man will zwar „Bella Figura“ machen, doch gelingt dies nur bruchstückhaft. Alles gerät außer Kontrolle. Andrea meint: „Manchmal wache ich morgens auf und denke mir: eigentlich könnte ich irgendwo hingehen, ein neues Leben anfangen, mit neuen Freunden, in einer großen Stadt mit viel Sonne.“ Im Hintergrund wird ein Parkplatz sichtbar, der viel Raum für Illusionen lässt. Yvonne, die früher als Pin-Up-Girl gearbeitet hat, erinnert sich an das Ballkleid der Herzogin von Longueville, das sie sich nachnähen ließ. Sie konstatiert: „Das ist das Fiese am Älterwerden. Man wird verletzbar. Man hat nicht mehr die Kraft, zu antworten.“ Ihr Sohn Eric entgegnet: „Du bist nicht alt, Mama“. Doch sie erwidert: „Doch. Von nun  an geht’s bergab. Man klammert sich zwar fest, aber früher oder später geht’s für jeden abwärts.Doris Kunstmann gelingt es als Yvonne Blum ebenso gut wie Julia Hansen als Andrea, die Geheimnisse und Vielschichtigkeit ihrer Rolle auszuloten. Boris Valentin Jacoby verdeutlicht als Eric glaubwürdig seinen psychischen Zusammenbruch.  Er klagt die Gesellschaft an: „Ich schufte mich ab, um die Familie zusammenzuhalten. Ich bin den ganzen Tag damit beschäftigt, alles mögliche Zeug zu organisieren, damit es uns gut geht, nie kriege ich auch nur den Hauch einer Anerkennung, nie, nichts als Beschwerden, Rumgenörgel, Leidensmienen!“ Francoise dagegen sinniert darüber nach, wie ihr Vater ihr beibrachte, allein aus dem Haus zu gehen. So nimmt man in der rasanten und kurzweiligen Inszenierung wahr, wie die Personen aneinander vorbeireden und sich oftmals aus dem Weg gehen. Selbst der von Ines Reinhard nonchalant gespielte Oberkellner besitzt dabei ein klares Profil. Andrea (die sich selbst als „sexsüchtig“ bezeichnet) und ihr genervter Freund Boris steigen zuletzt aber wieder als unzertrennliches Liebespaar ins rote Auto und fahren einfach davon: „Kein Mensch will gerne in der Öffentlichkeit gedemütigt werden.“ 

Alexander Walther   


WIEN/ Gesellschaft für Musiktheater: 24 KLEINE UND GROSSE DRAMEN AUF DEM KONZERTPODIUM mit MARISA ALTMANN-ALTHAUSEN und STEPHAN MÖLLER

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Wiener Konzerte: 21.1.2020, Gesellschaft für Musiktheater, 1090 Wien, Türkenstr. 19:
24 kleine und große Dramen auf dem Konzertpodium –
mit MARISA ALTMANN-ALTHAUSEN und STEPHAN MÖLLER


Marisa Altmann-Althausen. Foto: ORF

Ja, auch das gibt es: eine gewaltige Mezzosopran-Stimme, deren Besitzerin es schafft, jedes einzelne der ausgewählten Lieder von Mendelssohn, Wolf, Schumann und Schubertperfekt singend so zu deklamieren, dass man sich mitten in einem Bühnendrama wähnte.

Singen ist für Marisa Altmann-Althausen nie Selbstzweck, sondern Ausdrucksmittel. Der jeweilige Text, den man bei ihr zu gut 99 % problemlos versteht, gewinnt natürlich an Klang durch die Vertonung, und damit an emotionaler Kraft. Dass sie diesmal ausschließlich Lieder nach Texten bedeutender deutscher Dichter sang (Mörike, Chamisso, Goethe u.a.), erleichterte dieses bewundernswerte Unterfangen. Der großartige Pianist Stephan Möller erreicht vom Steinway aus das gleiche Ziel. Man kann ihm nie bloß gedankenlos zuhören, sondern sieht sich gezwungen zu überlegen, was er mit seinem Spiel gerade ausdrücken möchte. Dass sich aus der Zusammenarbeit der beiden Künstler immer entweder Duette oder Dialoge, gemeinsames Eintauchen in seelische Tiefen oder Erklimmen emotionaler Höhen, Leidensabgründe oder ansteckende Lebensfreude, Besinnlichkeit oder auch Übermut einstellt, ob kurzes oder langes Verweilen in einer Gefühlsphase – für Spannung ist stets gesorgt.

Das seitlich postierte Notenpult ermöglicht der Sängerin ein paar „Seitenblicke“, die ihre körperliche „Mitsprache“ nicht stören, die sich im wesentlichen auf Handbewegungen bzw. – haltungen beschränken. Der Gesichtsausdruck ergibt sich offenbar von selbst aus der Hingabe an das eben Gesungene. Nichts wirkt aufgesetzt.

„Drei Lieder für eine tiefe Stimme“ von Felix Mendelssohn Bartholdy sind für den Anfang gut gewählt. „Da lieg ich unter den Bäumen“ und „Herbstlied“ scheint diese Stimmlage nahezulegen. Dass die gewaltige Fricka-, Ortrud- und Azucena-Stimme, die eigentlich den kleinen Konzertsaal im Palais Khevenhüller zu sprengen droht, imstande ist, Kantilenen im Handumdrehen auf pianissimo-Legati zurückzunehmen, wundert einen nur zu Beginn. Denn das wiederholt sich von Lied zu Lied, ohne „Umschalte“-Probleme.

Die beiden (piano-crescendo- sf-diminuendo) pianistischen Einleitungstakte beim ersten Lied fesseln gerade durch die erwartungsvolle Spannung, die ihnen innewohnt, bis wir dann infolge die kräftige Versicherung erhalten: „Denn es bleibt die Liebe!“ – mehrfach wiederholt. Im „Herbstlied“ ist es die mehrfach erklärte Treue, die bleibt, bekräftigt durch die abschließenden 3 sanften, aber bestimmten piano-Akkorde. Natürlich bewegt sich dann viel (Andante con moto!) im „Jagdlied“ (aus Des Knaben Wunderhorn), ehe bei Hugo Wolf und seinen Mörike-Texten der Ernst des Lebens zurückkehrt und gleich bei „In der Frühe“ durchs „Kammerfenster“ die „Nachtgespenster“ ganz furchterregend drohen, die nach den nächtlichen Liebeserlebnissen erregte Frau sich aber schließlich mit ihren Selbstgesprächen während der Morgenglocken beruhigen kann. Alles ganz plausibel für die Zuhörer und Zuseher, wenn Stimme und Mimik so intensiv mitspielen. Flotter und erregter geht es zu in der (nächtlichen) „Begegnung“! Ein beeindruckender Kontrast dazu ist das ppp „getragen und weihevoll“ komponierte, durchgehend in Mezzo-Lage wunderschön gesungene „Schlafende Jesuskind“. Im entzückenden „Elfenlied“ kann die Sängerin beweisen, dass sie auch Leichtes, Scherzhaftes mühelos vermitteln kann. Leicht singt sie in „Auf einer Wanderung“ über die staccato-Begleitung im Dauer-legato hinweg. In „Denk es, o Seele“ beeindruckt der vom Pianisten „moderato“ und zunehmend „espressivo“ eingeleitete und von der Mezzosopranistin spannungsreich pp durchgehaltene Gesangspart. Ebenfalls mit durchgehaltenem pp, aber „innig und leidenschaftlich“ fesseln die beiden Künstler bei „Lebe wohl“. – Pause.

Die Schumann- und Schubert- Lieder setzen neue Höhepunkte. Bei „Seit ich ihn gesehen“ und „Er, der Herrlichste von allen“ darf die Stimme sich in Liebesglut ergießen, ehe die Überlegungen der liebenden Frau in „Ich kann`s nicht fassen, nicht glauben“ mit den geforderten unterschiedlichen Ausdrucksnuancen von den Interpreten voll erfüllt werden.

Die schwärmerischen 4 Folgelieder werden in jeder Hinsicht voll ausgekostet – von den Ausführenden wie vom Publikum, bis der „erste Schmerz“ – der Tod des geliebten Mannes – zu andauerndem Leid zu werden scheint. Einmal mehr bedankt ein beinahe Endlos-Applaus der Zuhörer die uns wie authentisch vorgelebten Emotionen.

Zuletzt: Franz Schubert. Marisa Altmann-Althausen tat gut daran, für ihre tiefe , hochdramatische Stimme mit dem „Wanderer“ ein Männerlied auszuwählen, das sie mit dem nötigen wuchtigen Einsatz problemlos bewältigen kann. Für die Glaubwürdigkeit des „brausenden Meeres“ sorgt Stephan Möller! „Wo du nicht bist, ist das Glück“? – Für die Besucher dieses Meisterkonzerts war es präsent!
Auf die Besingung des „Liebenden Vaters“ in „Ganymed“ folgt „Auf dem Wasser zu singen“ – mit vokal und instrumental genussreich sprudelnden Wellen! Und zuletzt steigert sich „Gretchen am Spinnrade“ schwärmerisch in die Vorstellung seiner (Fausts) „Rede Zauberfluss“ und wünscht sich ein „Vergehen“ an seinen Küssen. In stets sich steigernder innerer Unruhe kommt dies seitens der Sängerin und des Pianisten hinreißend zum Ausdruck. Ende?

Natürlich nicht. Endloser Beifall bewirkt noch 2 Draufgaben: „Du bist die Ruh…“ und die gar nicht ruhevolle „Forelle“, humorvoll-launisch vorgestellt, doch letztendlich gefangen.

Die beiden Künstler mögen bald wieder „eingefangen“ werden!

Sieglinde Pfabigan
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WIEN/ Konzerthaus/ „RESONANZEN – 5. GEBOT „Du sollst nicht töten“

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22.1.2020: Konzerthaus 5. Gebot / Konzert „RESONANZEN“: Du sollst nicht töten

Gibt man in einer Suchmaschine die Worte Mord und Komponist ein, so erscheint an vorderster Stelle sicher ein Verweis auf Gesualdo. Don Carlo Gesualdo di Venosa (1566 – 1613) war ein Neffe des Kardinals Carlo Borromeo (der Opernfreunden aus Pfitzners Palestrina bekannt ist). Nach dem Tod seines älteren Bruders wurde er mit 20 Jahren regierender Fürst und heiratete im gleichen Jahr seine Cousine Maria di Avalos. Nach vier Jahren erfuhr er, dass seine Frau ihn mit dem neapolitanischen Adeligen Fabrizio Carafa betrügt. Wie König Marke im Tristan gibt er vor, auf einen längeren Jagdausflug zu ziehen, kehrt früher zurück und überrascht das Paar in flagranti. Es ist nie geklärt worden, ob er selbst den Mord begangen hat, jedenfalls war das eine Scheidung auf italienisch, wie sie noch Mitte des vorigen Jahrhunderts verfilmt wurde und für einen Ehrenmord musste sich ein Adeliger in dieser Zeit sicher nicht vor einem Gericht verantworten. Dass dieser Stoff es erst Ende des 20.Jahrhunderts auf die Opernbühne brachte ist mindestens so verwunderlich, als dass es dann gleich mindestens vier Werke gab. (Die Oper von Schnittke war auch in der Staatsoper zu sehen, brachte es aber – leider – in 12 Jahren nur auf 14 Aufführungen.) Schuldgefühle und Selbstgeißelungen sind aber für Gesualdos weiteres Leben verbürgt. Trost spendete ihm sein musikalische Schaffen. In seinen Madrigalen ging er harmonisch weit über die üblichen Grenzen hinaus und wirkt sehr modern. Für die nächtlichen Stundengebete der Karwoche komponierte er gegen Ende seines Lebens sechsstimmige Responsorien, wobei für jede Nacht drei Gruppen von drei Psalmen standen.

Die Gruppe Graindelavoix unter ihrem Leiter Björn Schmölzer kam diesmal dankenswerter Weise nicht mit einer szenischen Performance wie bei ihrem Wien-Debut vor drei Jahren, wo auf der stockdunklen Bühne die Sänger jeweils die einzige leuchtende Glühbirne suchen mussten und Motetten mit Texten von Samuel Beckett gemischt wurden. Die beiden Damen (Anne-Kathryn Olsen und Teodora Tommasi) und sechs Herren (Rezek-François Bitar, Albert Riera, Andrés Miravete, Adrian Sirbu und Arnout Malfilet) positionierten sich im Halbkreis und davor mimte Björn Schmelzer mit großen Gesten den Dirigenten eines Riesenensembles. Den Sängern konnte er sich besser verständlich machen als dem Publikum seine Vorstellung zu verdeutlichen, wann er den Applaus für angebracht hielt. Das Ensemble machte klar, dass es Graindela voix und nicht Brillerdelavoix heißt, aber die „Mördermusik“ war jedenfalls den Abend wert.

Wolfgang Habermann

WIEN/ Volksoper: BALLETTABEND  „CARMINA BURANA “– und ein sich wiegender „Bolero“ dazu

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Bildergebnis für volksoper carmina burana

WIEN/ VOLKSOPER: BALLETTABEND 22.1.2020 –  „Carmina Burana “ – und ein sich wiegender „Bolero“ dazu 

Es ist ein eindrucksvoller Ballettabend. Nicht nur die Musik: Maurice Ravels „Bolero“, Claude Debussys „Nachmittag eines Fauns“, Carl Orffs „Carmina Burana“. Auch die Choreographien überzeugen, welche von mit dem Wiener Staatsballett verbundenen reiferen Tänzern für diese kleinere Abteilung des Opernballetts, das in der Volksoper trainiert und beheimatet ist, 2012 geschaffen wurden. Bei der Einstudierung wurde damals wohl spekuliert, mit solchen musikalischen Hits den drei Choreographierenden eine Schützenhilfe zu geben. Und dies hat jetzt auch bei Wiederaufnahme, nun bereits die Aufführung Nr. 53, bestens funktioniert – der ganze Abend wird vom Publikum voll angenommen.

Am Beginn Debussys impressionistischer „Faun“ als ein Erotik-Duo, von Choreograph Boris Nebyla leicht hin zu Porno gerückt, von Tainá Ferreira Luiz und Felipe Fieira ungemein geschmeidig wie ausdrucksstark getanzt. Und András Lukács hat für seine noble Version des „Bolero“ zu einem sich ästhetisch wiegenden Schreittanz mit zahlreichen Facetten wie abgetönten Gefühlseruptionen gefunden. 

In Orffs imposanten „Carmina Burana “ vermag jede der wechselnden stimmungsvollen Sequenzen anzusprechen. Vesna Orlic hat die kraftvollen Episoden mit dem Fantasieren über mittelalterliche Spritualität und Sinnlichkeit für die Tänzer wie den Chor auf der Bühne und die Gegesangssolisten (tadellos: Lauren Urquhart, Sebastian Reinthaller, Ben Connor) überzeugend erzählend in den Griff bekommen. Perfekt, absolut homogen: das Ensemble und Aleksandar Orlic als die weisende Schicksalsgöttin Fortuna, Suzanne Kertész, Elena Li, Tessa Magda, Samuel Colombet als Schwarzer Schwan oder Robert Weithas, Martin Winter. Und auch das Orchester unter Guido Mancusi hält, die drei Ballette stimmig illustrierend, bestens mit.

 

Meinhard Rüdenauer

 

WIEN / Jüdisches Museum: WIR BITTEN ZUM TANZ

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WIEN / Jüdisches Museum / Dorotheergasse:
WIR BITTEN ZUM TANZ
Der Wiener Cafetier Otto Pollak
Vom 22 Jänner 2020 bis zum 01. Jun 2020

Einst so lebendig,
heute vergessen…

Ein Teil der kulturellen Geschichte Wiens wurde bis 1938 von seiner jüdischen Bevölkerung mitgeschrieben. Nicht nur von den ganz reichen Familien wie den Ephrussis, denen das Jüdische Museum noch bis zum 13. April eine Großausstellung widmet. Sondern auch im Alltag, mit jüdischen Geschäften, Lokalen, Veranstaltungen. Otto Pollak und sein Bruder Karl führten bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in der Zwischenkriegszeit das „Café Palmhof“ in der Mariahilferstraße. Einst ein lebendiger Ort der Begegnung, für Tanz- und Musikveranstaltungen – heute ein Supermarkt… Im Jüdischen Museum wird die Erinnerung wach.

Von Renate Wagner

Adresse: Mariahilferstraße 135       Die Nr. 135 in der so genannten „Äußeren Mariahilferstraße“, jenseits des Gürtels, im 15. Bezirk Rudolfsheim-Fünfhaus, liegt keinesfalls „weit draußen“, sondern nur ein paar Schritte entfernt vom einstigen Westbahnhof. Heute zieht ein Supermarkt keinerlei Blicke auf sich. Nach dem Ersten Weltkrieg beherbergte das Gebäude die imposanten Räumlichkeiten des „Café Palmhof“, das gewissermaßen Wiens Beitrag zu den „Goldenen Zwanziger“ (und ein bisschen auch noch Dreißiger) Jahren war. Ein Vergnügungstempel mit dauernd wechselnden Künstlern und Programmen, von denen nur noch Plakate und Werbungen in den Zeitungen eine Ahnung vermitteln. Die Ausstattung des Kaffeehauses war üppig, es gab verschiedene Räumlichkeiten, und vom Wiener Lied bis zum Jazz, von einem „Pirateninsel“-Gschnas bis zur „Fräulein-Wien-Wahl“ im Jahre 1933 kannte das Programm keine Grenzen und wurde auch des öfteren im Radio übertragen – bis der Vorhang fiel.

 

Die Pollaks     Wie so viele jüdische Familien, die in Wien Karriere machten, kamen die Pollaks aus den Ländern der Monarchie. Otto (1894-1978) und sein Bruder Karl (1889-1943) wurden in Mähren geboren, die Eltern betrieben Handelsgeschäft. Otto meldete sich – wie viele habsburgertreue Juden – freiwillig als Soldat im Ersten Weltkrieg. Er verlor dabei ein Bein, nicht aber seinen Elan (tatsächlich hat er auch noch weiter „gesportelt“). Gemeinsam mit Karl schuf er 1919 das Café Palmhof, das während des Tages ein typisches Wiener Kaffeehaus war und abends aufblühte und mutierte – zum Jazzclub, zum Tanzlokal, zur Veranstaltungsbühne. Das dauerte keine zwanzig Jahre lang… Je mehr sich die politische Lage verschärfte, umso heftiger wurden die antisemitischen Angriffe gegen das Café.

Die Pollaks „danach“   Die neuen Herren von Wien verloren keine Zeit, fünf Tage nach dem „Anschluß“ wurde das „Palmhof“ arisiert, die Pollaks flüchteten in die Geburtsstadt von Otto und Karl, nach Gaya in Mähren, Aber man fand sie auch dort und transportierte die ganze Familie nach Theresienstadt. Nur Otto Pollak und seine Tochter Helga überlebten. Und der Mann, der nach dem Ersten Weltkrieg nicht einmal durch ein „Invaliden“-Schicksal zu brechen gewesen war, konnte die Erfahrungen des Konzentrationslagers überwinden. Man restituierte das Gebäude nach den üblichen Verzögerungen Anfang der fünfziger Jahre, aber Otto Pollak hatte nicht mehr die Kraft, sein Werk wieder zu beleben…

Erinnerungsstücke   Das Jüdische Museum hat von Otto Pollaks Tochter, Helga Kinsky, und anderen Leihgebern jene Erinnerungsstücke erhalten, die man nun im so genannten „Extrazimmer“ ausstellt, nur ein Raum, aber dicht gefüllt mit Bildern, Plakaten, Zeitungsausschnitten. Es gibt eine Speisekarte des Kaffeehauses und noch etwas Geschirr, es gibt ein Gästebuch, da bei der Unterschrift von Hans Moser aufgeschlagen ist. Mosaiksteine, die nicht nur die persönliche Geschichte eines ambitionierten Unternehmers dokumentieren, sondern ein weiterer, sehr bunter Baustein in der jüdischen Geschichte Wiens sind.

Jüdisches Museum Wien / Dorotheergasse / Extrazimmer:
Wir bitten zum Tanz.
Der Wiener Cafetier Otto Pollak
KuratorInnen: Theresa Eckstein, Janine Zettl
Bis zum 01, Jun 2020, geöffnet täglich außer Samstag 10 bis 18 Uhr

LYON: TOSCA . Neuinszenierung im Haus des künftigen Münchner Opernchefs

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Tosca im Wohnzimmer. Foto: Jean Louis Fernandez

Lyon: „TOSCA“ – Opéra  20.1.2020

 Man kann es kaum glauben, aber Puccinis Verismo-Reißer „Tosca“, an fast allen Opernhäusern der Welt ein fixer Bestandteil des Repertoires, wurde an der Opéra de Lyon erst zweimal (!) gegeben: nach der dortigen Erstaufführung im Jahr 1906 war die Oper hier zuletzt ín der Spielzeit 1978/79 in einer Inszenierung von Jean-Pierre Ponnelle zu sehen. Es war also höchste Zeit dem Publikum diese Oper wieder zu präsentieren, aber wer den Intendanten Serge Dorny kennt, wusste bereits im Voraus, dass das garantiert keine traditionelle Inszenierung à la Zeffirelli werden würde.

Unzählige Regisseure sind schon an Puccinis „Tosca“ gescheitert, vor allem dann, wenn sie versucht haben, die Handlung in eine andere Zeit zu verlegen. Diese Oper spielt nämlich exakt am 17. und 18. Juni 1800 in Rom. Spätestens wenn im 1. Akt über den Sieg der königlichen Armee über Napoleon berichtet wird und im 2. Akt die berichtigte Meldung von Napoleons Sieg in der Schlacht bei Marengo überbracht wird, wird es lächerlich, wenn sich etwa ein Gestapo-Chef in SS-Uniform oder ein Mafiaboss der Gegenwart über diese Meldung aufregt. Also die Handlung der Oper zu einem anderen Zeitpunkt spielen zu lassen endet meistens in einem peinlichen oder gar lächerlichen Desaster. Um diese Oper also in einem anderen Kontext ÜBERZEUGEND auf die Bühne zu bringen, da muss man schon ein großes Kunststück vollbringen, etwa so, wie dies dem Filmemacher Christophe Honoré nun an der Opéra de Lyon gelungen ist. (Es handelt sich im Übrigen um eine Co-Produktion mit dem Festival von Aix-en-Provence, wo die Produktion bereits im letzten Sommer zu sehen war.) Sein Inszenierungskonzept hat auch ein Vorbild, nämlich den berühmten Film „Sunset Boulevard“ von Billy Wilder, in dem eine berühmte Stummfilmschauspielerin auf ihrem Anwesen zurückgezogen lebt und von einem Comeback träumt.

Die Handlung spielt daher in der Gegenwart in einem luxuriösen Appartement einer alternden Operndiva (Bühnenbild: Alban Ho Van, Kostüme: Olivier Bériot). Die Wohnung ist fast mehr ein Museum denn eine Wohnung. Überall erinnern Gegenstände an die große Karriere der Primadonna. Auf dem Klavier stehen Fotos, auf denen sie mit berühmten Kollegen zu sehen ist, an den Wänden hängen Plakate von Opernproduktionen, in denen sie mitgewirkt hat usw. Hier lebt die Diva zurückgezogen in einer vergangenen Welt, nur ein gutaussehender Jüngling (Jean-Frédéric Lemoues) leistet ihr Gesellschaft. Tagsüber als Diener und Sekretär tätig, muss der Callboy wohl abends noch einige Überstunden im Schlafzimmer machen. Zu Beginn hört die Diva ihre eigene Aufnahme von Toscas Arie „Vissi d’arte“ an und bewegt dazu ihre Lippen. Sie erinnert sich dabei nicht nur an ihre Triumphe als Tosca, sondern sinniert auch im Sinne der gesungenen Worte (Ich lebte für die Kunst, lebte für die Liebe …) über ihr Leben. Dann teilt ihr der Diener mit, dass das Kamerateam und die jungen Sänger eingetroffen wären. Sie will sie nicht empfangen. Ihr Diener weist sie darauf hin, dass sie zugestimmt hätte, dass eine Dokumentation über ihr Leben gedreht werde und sie dabei auch mit einem jungen Sängerensemble Puccinis „Tosca“ für eine konzertante Aufführung einstudieren soll. Als sie erfährt, dass auch ein Kinderchor dabei ist, dreht sie fast durch, sie will die Kinder keineswegs in ihrer Wohnung haben. Schließlich kann ihr Diener sie mit sanften Worten beruhigen und sie empfängt die ganze Horde in ihrem Appartement. Sobald die beiden Kameramänner sie auf Schritt und Tritt verfolgen und alles aufnehmen, was sie sagt und tut, beginnt sie das Ganze sogar zu genießen. Sie fühlt sich geschmeichelt, dass die Kinder von ihr Autogramme wollen und Selfies mit ihr machen, sie genießt es von den jungen Sängern ehrfürchtig begrüßt zu werden. Schließlich teilt sie sogar Lutscher an die Kinder aus.

Die musikalische Probe der „Tosca“ soll also Mittelpunkt der Dokumentation über das Leben der großen Diva  werden. Und ganz langsam beginnen die Handlungsstränge der Oper und der Gegenwart ineinanderzugreifen. Die Madonna in der Kirche Sant‘ Andrea della Valle ist selbstverständlich die Diva selbst. Diese konnte es sich nicht verkneifen, wenn Tosca ihre ersten Töne („Mario! Mario“) zu singen hat, diese selbst zu singen, sehr zum Ärger der jungen Sängerin, die für die Tosca vorgesehen ist. Die Primadonna sieht ihren Fehler ein (oder tut wenigstens so …) und übergibt danach ganz huldvoll den Einsatz an ihre junge Kollegin. In der Zwischenzeit kommt der Tenor in Schwierigkeiten. Vom ersten Moment an stellte er der jungen Sängerin nach, aber nun wird er mehr und mehr von der großen Primadonna fasziniert. Diese überwacht die musikalische Probe, bricht auch mal ab, gibt den jungen Sängern Ratschläge und sorgt auch sonst für Ordnung. Als der Sänger des Scarpia Tosca auf den Hintern greift, klopft ihm die Diva sofort auf die Finger. Ein neuer Fall von #MeToo in ihrer Wohnung, das kommt überhaupt nicht in Frage. Wahrscheinlich hat sie diesbezüglich im Laufe ihrer Karriere selbst genügend Erfahrungen gesammelt. Im Te Deum wird schließlich von allen die Diva angebetet, und statt eines Kreuzes wird ein gerahmtes Plakat von einer „Tosca“-Aufführung an der Covent Garden Opera, auf dem die Diva in der Titelrolle zu sehen ist, hochgehalten

An dieser Stelle möchte ich kurz festhalten, dass es absolut unmöglich ist bei einmaligem Sehen dieser Inszenierung alle Details mitzubekommen. Es tut sich so viel gleichzeitig auf der Bühne, dazu kommen noch ständige Videoeinblendungen auf die Leinwände im oberen Bereich der Bühne (teilweise sehen wir in Großaufnahme, was die Kameramänner gerade live filmen, teilweise Einblendungen von verschiedenen Tosca-Verfilmungen etc.).

Im zweiten Akt beginnt dann das ganze aus dem Ruder zu laufen. Zu Beginn sitzen Tosca und die Diva in deren Schlafzimmer, sehen sich Fotoalben mit Bühnenfotos der berühmten Diva an und singen gemeinsam die Kantate (die Tosca hinter der Bühne zu singen hat), während im Nebenzimmer die musikalische Probe weitergeht. Die Primadonna ist mehr und mehr von ihrer jungen Gesangskollegin angetan. Sie schenkt ihr das Tosca-Kostüm, in dem sie einst an der Covent Garden Opera auf der Bühne gestanden ist (jenes berühmte rote Kleid, das in der Premiere der Produktion noch Maria Callas getragen hat), in das die junge Sopranistin sofort schlüpft und somit die Probe darin fortsetzt. Der Tenor hat in der Zwischenzeit beschlossen mit der alternden Diva ins Bett gehen zu wollen, wohl aus dem Grund um später damit prahlen zu können. Da sie ihn jedoch sexuell nicht so sehr erregt, muss er sich Mut antrinken. Er trinkt jedoch viel zu viel, sodass er sich zunächst übergeben muss und dann im Bett der Diva einschläft. Damit die beiden ungestört sein können, kümmern sich die Gesangskollegen um den hübschen Diener der Diva und vergewaltigen ihn. Dies geschieht alles zu dem Zeitpunkt, in dem laut Libretto hinter der Bühne eigentlich Cavaradossi gefoltert werden sollte. Am Höhepunkt der Folter soll Cavaradossi einen Schmerzensschrei ausstoßen. Hier schreckt der Tenor mit einem lauten Schrei aus dem Schlaf auf. Der Tenor, peinlich berührt, dass er im Bett nicht seinen Mann stehen konnte, wechselt wieder ins Nebenzimmer zu der Probe. Wenigstens hat er genügend Kraft um eine strahlendes „Vittoria!“ hinauszuschleudern. Wer weiß, ob er das noch geschafft hätte, wenn er sich vorher im Schlafzimmer verausgabt hätte … Während auf der Probe Tosca und Scarpia um den Preis für Cavaradossis Leben feilschen („Quanto? Il prezzo … A donna bella io non mi vendo a prezzo di moneta.”), spielt sich im Nebenzimmer genau das Gegenteil ab. Die Diva, enttäuscht, dass der junge Tenor noch vor dem Sex im Bett eingeschlafen war, steckt nun ihrem jungen, fast nackten Diener Geld zu, das dieser wie ein Gogo-Boy in seinen eng sitzenden Slip steckt. Aber nun hat die Primadonna plötzlich keine Lust mehr. Sie kehrt zur Probe in den Nebenraum zurück, gerade als Tosca Scarpia erstochen hat. Die junge Sopranistin kommt der Diva mit blutigen Unterarmen entgegen. Spätestens da fasst wohl die alternde Diva einen Plan, wie sie noch einmal Aufsehen erregen kann. Sie stellt die beiden Kerzenleuchter, die eigentlich dem toten Scarpia zur Seite gestellt werden sollten, auf den Boden und legt sich dazwischen mit ausgetreckten Armen. Probeliegen für den Sarg?

Im dritten Akt sind wir dann nicht mehr in der Wohnung der Diva, sondern in einem Theater oder Konzerthaus, in dem „Tosca“ konzertant gegeben wird. Das Orchester sitzt nun auf der Bühne, die Sänger agieren in Abendkleid und Smoking. Die Primadonna tritt aus dem Zuschauerraum auf. Sie genießt es majestätisch am Publikum vorbeizuschreiten mit einem großen Gehstock mit goldenem Knauf (wie ihn Renata Tebaldi in ihren „Tosca“-Aufführungen immer verwendet hat).  Im Zuschauerraum ist eine Miniaturausgabe der Engelsburg aufgebaut, mit Kerzen beleuchtet. Die Diva stellt Zinnsoldaten auf und singt dabei das Lied des Hirtenknaben, das von verschmähter Liebe handelt, die den Tod bringt. Dann drängt sie sich an der ersten Reihe vorbei auf die Bühne. Zunächst lauscht sie dem Konzert, dem Ergebnis der Einstudierung der Oper unter ihrer Leitung. Dann angelt sie sich einige Orchestermusiker, die gerade unbeschäftigt sind, und befielt ihnen Blumensträuße aus der Gasse zu holen und an der Bühnenrampe auszulegen. Dann erklimmt sie eine Brüstung über dem Orchester, auf der dann die Erschießung Cavaradossis simuliert wird. Sie schlitzt sich vor den Augen aller die Pulsadern auf und stirbt auf der Bühne. Ein endgültiger theatralischer Abgang, wie man ihn von einer Primadonna erwarten kann. Ihre letzte große Rolle.

Dies alles korrespondiert aber immer mit der Musik bzw. mit der gerade verwobenen Opernhandlung. Es ist absolut unmöglich alle Details anzuführen. Eine großartige Idee möchte ich jedoch noch hervorhaben: als im 2. Akt Sciarrone über die Schlacht bei Marengo berichtet, deutet der Sänger auf ein Gemälde in der Wohnung der Diva, das ebendiese Schlacht zeigt. (Warum fiel das bis jetzt noch keinem Regisseur ein?)

Dass aber diese Aufführung nicht nur szenisch interessant ist, sondern auch musikalisch etwas zu bieten hat, ist vor allem dem jungen Chefdirigenten Daniele Rustioni zu danken. So klangschön musiziert und klanglich ausbalanciert hört man Puccinis Opernreißer nicht alle Tage. Er hat das Orchester der Opéra de Lyon zu Höchstleistungen animiert (besonders hervorzuheben waren das Klarinetten- und das Cellosolo). Selten noch hat man Scarpia so belkantesk singen gehört wie an diesem Abend von Alexey Markov mit seinem warm timbrierten, weich strömenden Bariton. Massimo Giordano war als fescher italienischer Tenor,  der mehr Interesse an Sex als an seinem Gesangsberuf hat, überzeugend und konnte vor allem mit seinen Stentortönen („La vita mi costasse“ oder „Vittoria!“) punkten. Elena Guseva beeindruckte mit ihrer strahlenden Sopranstimme und leuchtenden Höhen. Lediglich in der Tiefe hat die Stimme zu wenig Fundament. Ihr „Vissi d’arte“ war gewiss der musikalische Höhepunkt des Abends, und das trotz der übermächtigen Konkurrenz vieler großartiger Tosca-Interpretinnen in Form von stummen Videoeinblendungen (Maria Callas, Renata Tebaldi, Raina Kabaiwanska, Shirley Verrett, Regine Crespin und natürlich Catherine Malfitano) über ihrem Kopf. (Hat sich Angel Blue, die die Premiere in Aix-en-Provence gesungen hat und eigentlich auch hier in Lyon singen sollte, wegen dieser erdrückenden Konkurrenz aus vergangenen Zeiten von der Produktion zurückgezogen?)


Catherine Malfitano als alternde Diva. Foto: Jean Louis Fernandez

Es war aber vor allem (noch einmal) der große Abend der Catherine Malfitano. Die amerikanische Sopranistin, die seit 1976 bei den Salzburger Festspielen (u.a. die Servilia in Mozarts „La clemenza di Tito“ und die vier Frauenpartien in „Hoffmanns Erzählungen“ in den unvergesslichen Ponnelle-Inszenierungen sowie die „Salome“ in der Produktion von Luc Bondy) und seit 1982 auch an der Wiener Staatsoper (Traviata, Manon, Grete in Schrekers „Der ferne Klang“, Butterfly, Salome und „Wozzeck“-Marie) gesungen hatte, hat sich bereits vor Jahren von der Bühne zurückgezogen. Seither ist sie überaus erfolgreich als Opernregisseurin tätig. Weltberühmt wurde sie vor allem 1992 durch die „Tosca“-Verfilmung, die mit Plácido Domingo als Partner an den Originalschauplätzen in Rom gedreht wurde. Nun kehrte sie noch einmal auf die Opernbühne zurück, um dieses großartige Portrait einer alternden Operndiva auf die Bühne zu bringen. Mit Selbstironie, mit Wehmut, mit ihrer nach wie vor immensen Persönlichkeit, mit der sie eigentlich alle anderen auf der Bühne erdrückt, hat sie eindringlich diese in der Vergangenheit lebende, einsame Diva verkörpert. Großartig, wie sie immer wieder von ihrem wirklichen Leben für wenige Momente aus der Realität in ihr früheres Künstlerleben hinübergleitet. Mit Melancholie durchlebt sie so zwischendurch immer wieder Momente aus Toscas Leben, als wäre es ihr eigenes Schicksal gewesen. Im nächsten Moment ist sie wieder der alternde Opernstar, der mit der Wirklichkeit nicht mehr zurechtkommt. Stimmlich muss man erwartungsgemäß einige Abstriche machen, aber dennoch faszinierte sie mit den Gesangspassagen, vor allem am Schluss mit dem berührend vorgetragenen Lied des Hirtenknaben.

Wie soll man diesen Abend in wenigen Worten zusammenfassen? Christophe Honoré hat mit dieser Inszenierung eine wundervolle Hommage für den immer seltener werden Typus der Operndiva geschaffen. Eine Liebeserklärung an die Gattung Oper an sich, eine Liebeserklärung an die großen Opernprimadonnen im Speziellen. Ein Abend, der einen von der ersten bis zur letzten Minute fasziniert, ein Abend der einen unglaublich berührt, ein Abend, der am Schluss sogar Gänsehaut erzeugt. Sind das nicht die Gründe, warum wir überhaupt in die Oper gehen?

 Walter Nowotny

 

BARCELONA/ Gran Teatre del Liceu: AIDA

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Giuseppe Verdi: Aida, Gran Teatre del Liceu, Barcelona, Vorstellung: 22.01.2020

 (7. Vorstellung seit der Premiere am 13.01.2020)

Plötzlich erscheint Zeffirelli als Asket

Aus Anlasse der Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der Wiedereröffnung des Liceu nach dem schweren Brand vom 31. Januar 1994 leistet sich das Opernhaus von Barcelona «An Aida for all times, in a classical production». Dazu wurde die hyperrealistischen Bühnenbilder des katalanischen Malers Josep Mestres Cabanes (1989-1990) aus dem Jahre 1945 restauriert. Seine gemalten Kulissen überzeugen durch ihren enormen Detailreichtum, grossartige Farben und perfekte dreidimensionale Wirkung. Als einen Grund diese Produktion nicht zu verpassen («Reasons not to miss «Aida») argumentiert das Liceu: «This emblematic Liceu show transports us from the 21st century back to the 1940s». Die Kulissen sind der einzige historische Bestandteil der Produktion.

Regisseur Thomas Guthrie verdeutlicht in seinem Konzept das Illusionistische der Malerei. Am Anfang und am Schluss ist auf der leeren Bühne im weissem Halbkreis ein Kind zu sehen, das in einem mit Sand gefüllten Tablett zeichnet. Da die Kulissen über weite Strecken die Bühnentiefe auf vier oder fünf Meter reduzieren, ist eine wirkliche Personenführung, auch angesichts des zahlreichen singenden und tanzenden Personals kaum je möglich. Die Kostümbildnerin Franca Squarciapino hat ihre Arbeit auf die Arbeit von Mestres Cabanes abgestimmt und entsprechend höchst ästhetische und höchst klassische Kostüme geschaffen. Das Stichwort «Hyperrealismus» dürfte auch im Konzept des Choreographen Angelo Smimmo auftauchen. Das muss aber nicht bedeuten, dass sich seine Arbeit harmonisch in den Rest einfügen würde. Warum er die Tänzer zuerst als lachende, zappelnde Irre zeigt und dann – hyperrealistisch – einen Kampf auf Leben und Tod zeigt, den nur einer überlebt, lässt sich nicht nachvollziehen.


Foto: A. Bofill

Das Orquestra Simfònica del Gran Teatre del Liceu spielt eine absolut hervorragende Vorstellung. Hier bleiben keine Wünsche offen. Höchst aufmerksam folgen die Musiker jedem noch so kleinen Zeichen von Gustavo Gimeno (Musikalische Leitung), der das Geschehen im Graben und auf der Bühne immer fest im Griff hat und sich als hervorragender Sängerbegleiter erweist.

Der Cor del Gran Teatre del Liceu macht mit seinem phänomenalen, satten, runden Klang den Abend zum Ereignis. Chordirektorin Conxita Garcia hat hier ganze Arbeit geleistet.

'Aida' de Verdi (© A. Bofill)
Foto: A. Bofill

Mariano Buccino gibt den König mit markantem, kräftigen Bass. Clémentine Margaine überzeugt als Amneris mit sattem Klang und grosser Bühnenpräsenz. Angela Maede hat als Aida leider einen ganz schlechten Abend. Einwandfrei stehen ihr nur die Tiefen zu Verfügung. Bereits in der Mittellage, vor allem aber in der Höhe und im Forte, wird die Stimme schneidend schrill. Als ihr in der grossen Arie im dritten Akt der Ton zweimal im Hals stecken bleibt, reagiert das Publikum brutal mit kollektivem, eisernen Schweigen. Yonghoon Lee kann als Radamès nicht überzeugen. Er singt den ganzen Abend über unter unangenehm hörbaren Druck und die Stimme klingt zudem entweder verschattet, so dass der Text kaum zu verstehen ist, oder rauchig. Kwangchul Youn orgelt dich als Ramfis durch den Abend. Lichtblick der Besetzung an diesem Abend ist Franco Vasallo. Er lässt gepflegte italienische Gesangskultur hören und zeigt, dass man Aida auch ohne Druck und veristische Zutaten bestreiten kann. Josep Fadó und Berna Perles ergänzen das Ensemble als Bote und Priesterin.

Fazit: Nicht jede Restaurierung einer Produktion ist gerechtfertigt.

Weitere Aufführungen: 27.01.2020, 28.01.2020, 30.01.2020, 31.01.2020, 01.02.2020, 02.02.2020.

24.01.2020, Jan Krobot/Zürich

STUTTGART/ Studiotheater: „DIESES KIND“ von Joel Pommerat

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STUTTGART/ Studiotheater: „DIESES KIND“ von Joel Pommerat im Studiotheater Stuttgart (23.1.2020)

Freudestrahlender Blick aufs Kindbett

 In der Regie von Marek S. Bednarsky werden die subtilen Beziehungen von Eltern und Kindern ausgelotet. Die knappe Ausstattung von Clementine Pohl arbeitet mit Lichteffekten. Und mit Bauklötzen baut man die Szenerie rasch um. Es entstehen verschiedene Lebenssituationen in Wohnblöcken. So stehen die Schauspieler Mirjam Birkl, Marion Jeiter, Dietmar Kwoka, Britta Scheerer und Tobias Strobel freudestrahlend ums Kinderbettchen herum: „dieses Kind gibt mir die Kraft/ich werde den anderen zeigen, was in mir steckt/ich werde ihnen zeigen, dass ich anders bin, als sie denken, ich werde meinen Eltern zeigen, dass ich nicht die bin, für die sie mich halten…“

Dieses Schauspiel in zehn Szenen des französischen Dramatikers Joel Pommerat wird ergänzt um einen Epilog von Franz Kafka. Eine junge Mutter bietet dem netten Paar von Gegenüber an, ihnen ihren Säugling zu schenken. „Aber das ist doch nicht Ihr Ernst?!“ meint der Mann fassungslos. Man sieht, wie verzweifelt die junge Frau mit sich ringt. Aber für sie gibt es keine andere Lösung. Sie ist ihrer Mutterrolle einfach nicht gewachsen. Eine starke Szene. Eine Tochter weiß nicht, ob sie der Gedanke traurig macht, ihren Vater nie wieder zu sehen. Sie mimt einfach ein Pferd, das vor sich hintrappelt. Der Vater ist völlig fassungslos: „Aber Kinder brauchen doch einen Vater. Alle Kinder brauchen einen Vater. Wärst du denn nicht traurig, wenn wir uns nicht mehr sehen?“ Doch die Tochter läuft zuletzt einfach davon, lässt den Vater allein zurück. Und in einer Leichenhalle stellen sich zwei Frauen die Frage, wessen Sohn unter dem weißen Tuch identifiziert werden muss. Das ist dann fast schon ein Krimi, der allerdings ausgezeichnet gespielt ist. Die Frau ist sich nicht mehr sicher, ob es nicht ihr toter Sohn ist. Sie erleidet einen Zusammenbruch. Ihre Begleiterin weigert sich zuletzt auch, unter das Leichentuch zu blicken. Angst macht sich breit. Eine beklemmende Szene, die unter die Haut geht. Während einer Geburt zweifeln die Anwesenden, ob die werdende Mutter das Kind tatsächlich bekommen will: „Pressen Sie doch!“ Doch das Kind will einfach nicht kommen. Diese Szene besitzt eher einen satirischen Zuschnitt.  Und ein junger Vater schwört sich, alles besser zu machen wie der eigene Vater: „Ich möchte auf meinen Sohn zugehen können, ohne Angst und Schrecken in seinem Blick zu sehen. Tut mir leid, Papa, aber ich möchte anders zu meinem Sohn sein, als du zu mir warst. Ich möchte, dass mein Sohn etwas anderes für mich empfinden kann als ich für dich.“ Der Vater schweigt vor Zorn. Da lässt dann Franz Kafkas „Brief an den Vater“ grüßen: „Du kannst ein Kind nur so behandeln, wie Du eben selbst geschaffen bist, mit Kraft, Lärm und Jähzorn, und in diesem Falle schien dir das auch noch überdies deshalb sehr gut geeignet, weil Du einen kräftigen mutigen Jungen in mir aufziehen wolltest.“ Zwischen emotionaler Explosion und tiefem Schweigen wird bei dieser suggestiven Inszenierung alles geboten. Das zeigt sich außerdem bei der tragischen Begegnung eines arbeitslosen Vaters mit seinem Sohn, der ihm vorwirft, an seiner verfluchten „Maloche“ zugunde zu gehen. Gleichzeitig behauptet der Sohn, dass der Vater „kein Mann“ sei, weil er den ganzen Tag nur in seiner Wohnung herumlaufe. Dieses Schauspiel besticht gerade aufgrund der psychologisch geschickt aufbereiteten Momentaufnahmen aus dem Leben einzelner Menschen durch seine Direktheit. Das wirkt ganz unmittelbar auf den Zuschauer. Die Familienwelten sind hier aber aus dem Lot geraten. Banale Konflikte verdichten sich, die Verletzlichkeit jedes Einzelnen tritt grell hervor. Selbst die Musik passt zur Inszenierung: Sergey Khachatryan (Violine) spielt in Ausschnitten die Partita Nr. 3 in Es-Dur BWV 1006 von Johann Sebastian Bach. Es bleibt nämlich die Hoffnung, dass gerade diese Musik kranke Seelen heilt. 

Alexander Walther


WIEN/ Konzerthaus „RESONANZEN 6. GEBOT: Du sollst nicht die Ehe brechen“

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23.1.2020: Konzerthaus 6.Gebot / Konzert „RESONANZEN“

 Du sollst nicht die Ehe brechen

Verblüffend, wenn für das Gebot, das lange Zeit in der katholischen Kirche fast als das wichtigste Gebot angesehen wurde und bei einer Befragung wohl an erster Stelle genannt würde, ausgerechnet hinter Klostermauern gegangen wird. Aber aus katholischer Sicht sind Nonnen Bräute Christi und der Schauspieler Gerd Wameling liest sehr launig eine Geschichte aus dem Kloster San Lorenzo in Bologna aus der Zeit um 1580. (Wer den sehr informativen und lockeren Text verfasste, verrät das Programmheft leider nicht.) In diesem Kloster waren viele adelige Nonnen, die außer dem täglichen Messebesuch keine Aufgaben hatten und sich der Musik widmeten. Dabei verstießen sie zwar gegen ziemlich alle Vorgaben der Obrigkeit, fanden aber auch immer wieder hohe Würdenträger, die ihre künstlerischen Ambitionen verteidigten. Die Capella de la Torre brachten die verschiedensten Werke, die sich vermutlich in der Klosterbibliothek befanden und die bei weitem nicht nur geistliche Themen behandelten. Schöpfer dieser Werke waren Komponisten von Clemens non Papa bis zu Andrea Falconieri. Warum das Wort Schalmeientöne in der Literatur so positiv besetzt ist, wird einem klar wenn man Katharina Bäuml, die Leiterin der Capella hört. Sie wird unterstützt von Hildegard Wippermann, die meist einen Altpommer, manchmal aber auch Flöte spielt. Regina Hahnke mit dem Dulcian und Tural Ismayilov, der auf der Posaune auch bei Gelegenheit so richtig swingt und sozusagen einen Zeitsprung in die Gegenwart riskiert, sind die weiteren Blasinstrumente. Die unbedankteren, aber wesentlichen Aufgaben des Continuo übernehmen Martina Fiedler an der Orgel und Johannes Vogt mit der Laute. Naturgemäß ist da der Perkussionist Peter A.Bauer bevorzugt, da er immer wieder Gelegenheit hat, sich spektakulär zu präsentieren. Bei den vielen Liedern im Programm braucht es natürlich auch eine Sängerin. Das war die Amerikanerin Margaret Hunter, die mit zwei Stimmen angereist kam. Im oberen Register erinnert die Stimme an Kren (Meerrettich). Sie ist weiß und scharf. Die unteren Register sind oft nur knapp über der Hörbarkeitsgrenze. Da trägt die Stimme auch im kleinen Mozartsaal überhaupt nicht.

Wolfgang Habermann

 

WIEN / Vestibül: KRIEGERIN

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Fotos: Burgtheater / Cruz

WIEN / Vestibül des Burgtheaters:
KRIEGERIN
Nach dem Film von David Wnendt
Für die Bühne bearbeitet von Tina Müller
Premiere: 24. Jänner 2020

Das Burgtheater zeigt diesen im Vestibül angesiedelten Abend in seiner Jugendtheater-Schiene – Tina Müller hat den viel gepriesenen und preisgekrönten Film „Kriegerin“ von David Wnendt aus dem Jahre 2011 dramatisiert, ziemlich nahe am Original, dennoch einige Handlungselemente stark verwischt, schon weil die ursprünglich im Osten Deutschlands angesiedelte Geschichte hier doch „irgendwie“ in Österreich spielen soll.

Ein „Lehrstück“ ist es auf jeden Fall, entsprechend geradlinig sind Figuren und Handlung angelegt, vieles folgt eher der Kinodramaturgie als vermutlich der Realität. Zweifellos überzeugend ist das Milieu in der „rechten“ Jugendszene getroffen – lautstark, brutal, gehässig, von Bösartigkeit durchtränkt, grölend Haßparolen skandierend, eine Jugend, die sich als Revolutionäre fühlt und den Gegner, „der alles zerstört“, schon ausgemacht hat: die Flüchtlinge.

Einige Schicksale sind parallel geschaltet, wobei Marisa im Mittelpunkt steht, „Kriegerin“ und Königin der rechten Jugendbande – eine hilflose Proletarier-Mutter und ein Nazi-Opa (das kommt im Stück nicht heraus) sollen Marisas Weg in die Szene motivieren. Als ihr Freund Sandro aus dem Gefängnis zurückkehrt, macht er ihr nur klar, worin die Rolle der Frau besteht: als Fotze fungieren und die Goschen halten. Daraus hat der Film einen Teil von Marisas „Wandlung“ zu begründen versucht. Dass sie ein Flüchtlings-Geschwisterpaar kennenlernt, die beiden bei einem Unfall verletzt und sich dann des unglücklichen Bruders annimmt (die Schwester hat man nach Hause deportiert), wirkt schon weniger glaubhaft – ist aber ein absolut essentieller Teil der Handlung.

Deutlicher wird, warum Svenja den Weg in die scheinbare „Geborgenheit“ der revoltierenden Jugend findet: eine ebenfalls hilflose Mutter, ein sadistisch-terroristischer Vater. Eltern, die stets völlig erschüttert sind, wie ihre Kinder in dieses „Gedankengut“ abgleiten konnten!

In etwas mehr als eineinhalb Stunden wird die Handlung, die weniger überzeugt als die eine oder andere Situation von Regisseurin Anja Sczilinski auf den winzigen Spielraum des Vestibüls gestellt, wozu es nur zweier beweglicher Elemente (Bühnenbild: Anneliese Neudecker) und schäbiger Jugend- und Proletarierkleidung (Kostüme: Lili Wanner) bedarf. Die vielen Raufszenen zeugen von der Hilfe der Choreographie (Daniela Mühlbauer). Im übrigen ist es eine Schar ungewöhnlich begabter junger Leute, die den Abend mit dem so genannten „prallen Leben“ erfüllt.

Ein außerordentliches Talent, eine überzeugende Persönlichkeit ist Hanna Mannsberger in der Titelrolle, viel jünger wirkend, als sie ist, am stärksten, wenn sie Kraft und Zorn versprüht (die sentimentale Wendung des Geschehens ist kaum in den Griff zu bekommen). Hervorragend in ihrer Wandlung, ja Verwandlung von gedrückten Geschöpf zur hektischen Fanatikerin ist Alice Prosser mit dem Mut zur optischen Unscheinbarkeit. Möge man alle anderen unter dem Lob subsumieren, dass sie eine verdammt überzeugende Bande sind, möchte man Flora Egbonu mit ihrer besonderen Ausstrahlung doch noch besonders erwähnen.

Zwei Erwachsene dürfen im Wirbel der Jugendlichen dabei sein, sowohl Dunja Sowinetz und Wolfram Rupperti zeigen viele Gesichter (wenn auch keine positiven) und verwandeln sich überzeugend.

Sicher, das großartige tragische Ende des Films am Meer (wo es einem auch die Kehle abschnürt, wenn man sieht, mit welch armseligen Schlauchboot der Flüchtling aufs milde Wasser geht, um sein Ziel in Schweden zu erreichen) kann auf dem Theater nicht wiederholt werden. Schade, dass man am Ende auf die pathetisch-theatralische Idee kam, alle zu Musik in oratorienhaften Gesang ausbrechen zu lassen, so dass man nun, nach all den Schrecknissen, die man gesehen hat, mit quasi positiver Besänftigung entlassen wird. Das ist dann doch ein bisschen billig.

Ob das für ein Publikum ab 14 Jahren, das sich hoffentlich nur im geringsten Teil in solchen Welten bewegt, genug Ausgleich bietet? Ob überhaupt ein geradliniges Lehrstück wie dieses den richtigen Weg weist? Nun, die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Renate Wagner

WIEN / Staatsoper: SALOME von Richard Strauss

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Herodes (Herwig Pecaro) und Salome (Lise Lindstrom). Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

WIEN / Staatsoper: SALOME von Richard Strauss

243. Aufführung in dieser Inszenierung

24. Jänner 2020

Von Manfred A. Schmid

„Deine Stimme peinigt mich,“ rügt Herodes seine Frau, die ihn von Beginn an keifend, rechthaberisch bedrängt und, um ihn zu ärgern,  das Objekt seiner Begierde, ihre Tochter Salome, auf deren rapidem Weg in die Raserei unentwegt bestärkt. So ergeht es an diesem Abend leider auch dem Publikum. Was Waltraud Meier als Herodias von sich hören lässt, tut einfach weh. Da hat eine große Stimme wieder einmal den rechten Zeitpunkt, sich zurückzuziehen, versäumt und irrlichtert nun auf den Bühnen weiter herum. Und nervt. Auch für Herwig Pecoraro, der mit seinem eigenwillig gefärbten Charaktertenor in den letzten Jahren als kauzig-verschlagener Mime und merkwürdig neurotischer Herodes immer wieder aufhorchen hat lassen, ist die Zeit des Abschieds gekommen. Sollte er, wie man hört, mit Ende der Saison in die wohlverdiente Pension gehen, wird man sich des lüsternen, dabei kindlich-naiv wirkenden, ängstlich-misstrauischen Tetrarchs aus seiner besten Zeit gerne erinnern.

Lise Lindstrom zeichnet die Salome, wie gewohnt, mit dramatischer Wucht als verführerische, impulsive, erotisch neugierige Frau, die auf der Suche nach dem Extremsten, Außergewöhnlichsten alle Schranken hinter sich lässt. Wie sie in ihrem unzähmbaren, unersättlichen Verlagen den Kopf des ersehnten Jochanaan auf der Silberschale serviert bekommen will und diesen dann küsst, stößt nicht nur ihre Umwelt – zu allererst ihren Verehrer Narraboth, der sich früh aus purer Verzweiflung erdolcht –  vor den Kopf, sondern kostet sie schließlich auch das eigene Leben: „Man töte dieses Weib!“-  Eine schöne Stimme muss die Sängerin der Salome nicht haben (ein Kriterium, das Lindstrom voll erfüllt), aber etwas mehr Modulationsfähigkeit wäre nicht schlecht. So ist sie in den hohen Lagen zwar überwältigend, doch die wichtigen Piano-Passagen gelingen ihr nicht, und ihr Sopran lässt auch die kernige Mitte vermissen. Dennoch – inklusive Schleiertanz – ein wirkungsvoller, elektrisierender Auftritt. Und passend zur schwülstigen, erotisch aufgeladenen, flirrend-schwirrenden, an der Kippe zur Hysterie taumelnden Atmosphäre der Jahrhundertwende, in der Strauss dieses Meisterwerk der sich anbahnenden Moderne, nach einem bilderreichen Libretto von Oscar Wilde, komponiert hat. Und in der auch die wohl längst denkmalgeschützte Jugendstil-Bühne von Jürgen Rose, in der Regie von Boleslav Barlog, angesiedelt ist

Jochanaan (Michael Volle) beim Verlassen des Brunnens. Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Michael Volle als Jochanaan liefert die stärkste Leistung des Abends ab. Unbeirrt gibt er, mit profundem, wohlklingendem, stets wortdeutlichem Bariton, seine prophetischen Aussagen von sich, mahnt zu Reue und Umkehr, preist den Messias und widersetzt sich den Nachstellungen der ihn krankhaft erotisch bedrängenden Salome. Nur einmal berühren sich, als beide am Brunnenrand kauern, für einen kurzen Augenblick ihre tastenden Hände, doch sofort entzieht er sich ihrem Bann und verflucht sie mit Nachdruck. Sein Gebaren ist durchaus gestaltungsfreudig, während seine Stimme in einem eintönigen, wenn auch höchst intensiven Forte-Duktus befangen bleibt. Trotz dieser Einschränkung ist Volle unbestritten einer der derzeit besten Jochanaans, und man kann ihn auch aus seinem Verlies im Brunnens, in dem er gefangen gehalten wird, gut hören.

Oscar Osuna ist ein stimmlich nicht sehr einprägsamer, rollendeckender Narraboth, Ulrike Helzel ein solider, in der Tiefe diesmal nicht ganz so überzeugender Page. Aus der Gruppe der streitenden Fünf Juden sticht Thomas Ebenstein hervor, Alexandru Moisiuc ist ein passabler Erster Nazarener.

Musikalisch steht die Aufführung, nachdem er jüngst krankheitsbedingt durch Dennis Russell Davies ersetzt werden musste, diesmal wieder unter der Leitung von Michael Boder. Normalerweise ein Garant für herausragende modernes Musiktheater, gelingt es ihm zwar den Klangrausch zu entfalten – bis hin zur Grenze des Erträglichen, was bei diesem Werk durchaus erwünscht ist. Die Feinarbeit aber, die ebenso wichtig ist, bleibt oft auf der Strecke, und es gibt auch hörbare Koordinationsprobleme mit dem Orchester.

Heftiger Applaus für einen aufwühlenden, ziemlich aufgerauten Klangrausch.

a t t i t u d e: This week’s recommendations: Jan. 25th, 2020

LINZ/ Brucknerhaus: „NULLEINS“– (Brucknerorchester, Markus Poschner)

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Linz: „NULLEINS“ – Konzert im Brucknerhaus, Großer Saal, 26. 01.2020

Das Bruckner Orchester Linz unter Leitung und mit Moderation von Markus Poschner

Während die einen dieser Tage auf „mörderische“ Aufschläge von Dominic Thiem in Melbourne hoffen, schlägt das Bruckner Orchester daheim in Linz auf: „Nulleins steht für das erste Mal, Urknall oder Aufschlag. Gemeint ist das allererste Konzert in der erstmals eigenen Konzertreihe des Bruckner Orchester Linz.“ (zitiert aus der Konzertankündigung).

Für ein Bruckner-Orchester ist der Namensgeber selbstredend Programmverpflichtung, und am Beginn einer eigenen Konzertreihe wäre die erste Symphonie des Meisters aus Ansfelden die logische Wahl. Nur ist dessen „1. Symphonie“ irgendwie nicht ganz dessen erste Symphonie: es gibt eine 1863 komponierte (Werkverzeichnis Anton Bruckner 99) in f-Moll, die Bruckner ausschließlich als „Schularbeit“ verstanden wissen wollte; 1866 folgte die „wirkliche Erste“, WAB 101, in c-Moll. Und dann gibt es eine, die mit der quasi unmöglichen Bezeichnung „die Nullte“ in der Werksliste Bruckners herumgeistert: dieses opus (WAB 100, in d-Moll) entstand 1869, seinem ersten Jahr in Wien als Lehrer am Konservatorium der Musikfreunde; Bruckner hat sich, nach negativer Kritik des Hofopernkapellmeisters Dessoff („kein Hauptthema im ersten Satz“),  nie ernsthaft bemüht, sie aufführen zu lassen. Trotzdem enthält dieses Werk zahlreiche kompositorische Fingerübungen, die sich bis hin zu Bruckners Neunter niedergeschlagen haben – und der erste Satz ist als Verflechtung verschiedenster Motive abseits der „gültigen Regeln“ konstruiert, also in Wirklichkeit revolutionär (weicht aber auch noch nicht so weit vom Kanon ab wie der „Tristan“). Jedenfalls vernichtete er das Werk nicht, vermachte es sogar dem oberösterreichischen Landesmuseum; schließlich, ein Jahr vor seinem Tod, schrieb er bei der Ordnung seines künftigen Nachlasses auf die Titelseite des Autographs „ganz ungiltig“ und „annullirt“. Publikation und Uraufführung erfolgten erst 1924.

Wir hörten diese Symphonie nach der Pause; vor dieser waren Inspirationsquellen für Bruckner programmiert: „eine gehörige Portion von italienischem Esprit“ in der Wilhelm Tell-Ouverture – Rossini galt im Biedermeier als der populärste Komponist zumindest in Europa. Es folgen Grand Opéra samt wegweisender Instrumentationskunst vom Bruckner seit 1864 geläufigen Hector Berlioz (Ouverture zu „Béatrice et Bénédict“) und die Magie der „Sphärenklänge“ von Josef Strauss, op. 235; dieses Werk wurde im selben Jahr wie WAB 100 komponiert.

Die Zahl der Musikerinnen und Musiker blieb den ganzen Abend im Prinzip gleich, was bedeutet, daß die Wilhelm-Tell-Ouverture wohl gegenüber den originalen Usancen gut 1½fach besetzt war (z. B. konnten wir 14 zweite Geigen zählen), und gegenüber dem klassischen Strauss-Orchester reden wir von einer Verdoppelung. Absolut nicht aber reden wir von einer Vergröberung der Interpretation – Poschner und das Bruckner-Orchester finden genau die richtigen Proportionen in Eleganz, Dynamik und Transparenz.

Zu Beginn leider eine jahreszeitlich nicht unbedingt überraschende Enttäuschung: Orchestervorstand Norbert Trawöger teilt uns mit, daß der eigentlich als Moderator (und vielleicht auch solistisch) vorgesehene Martin Grubinger durch eine fieberhafte Erkrankung ausfällt.

Beim Rossini-Schlager jedenfalls herrscht bis ins letzte Glied absolute Präzision, das Solo-Cello singt himmlisch, überhaupt ist der Streicherklang großartig, seidig – wenn man überhaupt eine Gruppe hervorheben sollte aus diesem tollem Kollektiv.

Den Beginn der Berlioz-Ouverture könnte man umschreiben mit „Be-bop meets Klassik“ – so irrlichternd schickt der Komponist anfangs seine Themen, besser: Themenfragmente durch Instrumentengruppen und Tonarten; daß Markus Poschner als respektabler Jazz-Pianist gilt, mag hier auch kein Manko sein. Im Weiteren bestimmen Melodik und Pracht den Klang. Auch dies insgesamt eine spannende, federnde, detaillierte und perlende Interpretation in überzeugenden Tempi.

Die „Sphärenklänge“ nimmt Poschner in erster Linie als symphonische Dichtung, vor allem in der Einleitung (ausgeprägter als z. B. Franz Welser-Möst, Philharmoniker in Schönbrunn 2010). Er vergißt aber darüber auch nicht den Walzer. Die Klänge, die er dem Orchester entlockt, machen jedenfalls dem Titel alle Ehre; sie reichen bisweilen ins Ätherische, ohne dabei Sicherheit und Definition zu verlieren: bewegend!

Der gewaltige Applaus forderte eine Zugabe: die Polka „Ohne Sorgen“ (Josef Strauss op. 271) schickt uns mit Esprit, Tempo und Vergnügen in die Pause.

In dieser startet der Verkauf der ersten Ausgabe einer neuen Einspielung der Bruckner-Symphonien mit den Protagonisten des Abends, 1.000 Kopien der 8. Symphonie stehen erst einmal auf Vinyl zur Verfügung.

Und dann Bruckners „Annullierte“ in d-Moll: ja, dem ersten Satz fehlt eine „catch phrase“, ein Aufhänger, wie etwa die Hörner in der „Romantischen“ – aber was sich da an komplexen Verflechtungen heraushören läßt, erneut in transparentem, leuchtendem Spiel präsentiert, bei Wahrung des großen Bogens, des Zusammenhaltes, ist schon sehr interessant.  Der zweite Satz ist dann schon ziemlich der Bruckner, wie wir ihn kennen; mitunter, sicher nicht dem Dirigat anzulasten, lassen sich noch einige Durchhänger bei den musikalischen Ideen erkennen. Das Scherzo erinnert in der Thematik und italienischer Anmutung durchaus an Mendelssohn und eben Rossini, mit einem wunderbar „gesungenen“ Trio. Und der vierte Satz schließlich kündigt an, ja enthält schon fast alles, was Bruckner in Hinkunft ausmachen wird: Größe, Dynamik, harmonische Progressionen durch Sonne, Mond und Sterne, Iterationen. Als „erwachsener Bruckner“ wird das auch präsentiert, bis zum strahlenden Finale.

Lange anhaltender Jubel, Begeisterung über ein für etliche im Saal neues Werk, auf absolutem Spitzenniveau interpretiert. Nach 10 Minuten Applaus noch einmal eine Zugabe; man hat nur die selbe Polka wie vor der Pause greifbar – ja, ist nach diesem aufwühlenden Bruckner nicht ideal, aber so flott und sorgenfrei läßt man sich trotzdem gerne in die neue Woche entlassen!

 

Petra und Helmut Huber

Film: DIE FANTASTISCHE REISE DES DR. DOLITTLE

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Filmstart: 31. Jänner 2020
DIE FANTASTISCHE REISE DES DR. DOLITTLE
USA / 2020
Regie: Stephen Gaghan
Mit: Robert Downey Jr., Antonio Banderas, Michael Sheen, Emma Thompson (Stimme) u.a.

Vielleicht hat man auch hierzulande (wenn sicher nicht so viel wie im englischen Sprachraum) die „Dr. Doolittle“-Geschichten gelesen, Kinderbücher aus den zwanziger und dreißiger Jahren, die aber vor allem durch einen Film berühmt geworden sind. Wer an „Dr. Doolittle“ im Kino denkt, hat den eleganten Rex Harrison im grauen Cut mit Zylinder vor Augen, elegant, charmant, während Eddie Murphy später in der Rolle vergessenwert war.

Und nun Robert Downey Jr.. immerhin zwischen „Iron Man“ und „Sherlock Holmes“ darstellerisch überzeugend und an der Kinokasse erfolgreich? Downey und die immer reizvolle Story des Arztes, der mit den Tieren sprechen kann (und vor allem: die mir ihm) – das muss doch einen Erfolg geben? Leider hat man diesmal das Gefühl, als habe Hollywood schnell eine eher schlampige Billigversion der Sache gedreht – dabei wurde ein Budget von 175 Millionen Dollar verbraten, die erst wieder herein kommen müssen. Digitale Witzchen kosten Geld.

Es beginnt auch – man ist kurz verwirrt – wie ein Animationsfilm, dann geht es „menschlich“ weiter, und schließlich ist der Mix Mensch / Digital nicht zum ersten Mal Kennzeichen der Geschichte, deren Rahmenhandlung von zwei Kindern getragen wird. Aber dann ist man bei Dr. Doolittle, und wie sieht der aus? Ein total verwahrloster Robert Downey Jr., der mit wucherndem Haar und Bart wie ein Wurzelzwerg aussieht, hat offenbar Lust auf gar nichts, trauert um seine verstorbene Frau und möchte in Ruhe gelassen werden. Bis er erfährt, dass die Queen (es handelt sich um Victoria, allerdings nicht als alte Schachtel, sondern als junge Frau in Gestalt von Jessie Buckley) schwer krank ist. Weiß der Teufel, warum gerade er sie retten muss, wird nicht ganz klar, aber das ist eben die Geschichte.

Rund um Doolittle finden sich seine (animinierten) Tiere und schnattern mit Menschenstimmen auf ihn ein: Sie sind ein bunter Haufen komischer Charaktere – vor allem die Papageien-Dame Polynesia. Nicht nur, dass Emma Thompson hören lässt (die Originalfassung lohnt sich hier wirklich), was man mit einer Stimme alles erreichen kann, sie weiß auch immer, was Doolittle zu tun hat und puscht den lustlosen Mann nach allen Regeln der Kunst. Aber da sind auch noch ein Gorilla (der manchmal furchtsam ist), ein Strauß, ein Eisbär, eine Ente, ein Hund, eine Maus, ein Tifer, eine Giraffe, ein Fuchs und andere mehr, und sie sind es eigentlich, die den Film tragen, auch wenn man dergleichen bei Disney schon oft und oft (und oft gut) gesehen hat. Sie stehlen die Show und werden vor allem jene Kinder vergnügen, die in unserer Welt noch Kinder sind – wo wie man sie gestern verstand…

Die Story ist simpel: Nur Doolittle weiß, welche Pflanze die Königin retten kann. Die ist in ihrem Palast nicht nur von den üblichen Bärenmützen, sondern auch von einer Phalanx von Bösewichten umgeben (an der Spitze Martin Sheen, der das sehr süffisant macht, aber auch Jim Broadbent ist kein Guter). Doolittle muss nun, wir sind ja doch im Märchen, mit seiner Tierschar auf die geheimnisvolle, mystische Insel Eden reisen (begleitet von dem jungen Tommy Stubbins, gespielt von Harry Collett, dessen Gesicht man sich aus „Dunkirk“ gemerkt hat), wo das heilende Kraut wachsen soll.

Dort findet er wenig mehr als – immerhin – Antonio Banderas, weißbärtig, dem es Spaß macht, als Banditen-Fürst seine eigene Parodie darzustellen (auch mit dem überdrehten Akzent des Latinos). Was sonst noch passiert, ist ein ziemlich hoffnungsloses Durcheinander, von einem Regisseur (Stephen Gaghan), der Besseres gezeigt hat („Syriana“), nicht wirklich in logischen Zusammenhang gebracht. Und irgendwann ermüden auch die durcheinander schnatternden Tiere.

„Nur für Kinder“ heißt nicht, dass Chaos herrschen muss und alles so schrecklich künstlich wirkt. Bis man wieder Boden unter den Füßen gewinnt und die heilende Pflanze, die auch einem Monster abgerungen werden musste, bei der kranken jungen Queen landet, deren Tod gerade verkündet werden soll… aber nein, da ist ja noch Doolittle, der sie rettet, aber die Zufriedenheit, die in der Folge (auch von den Tieren) auf der Leinwand ausgedrückt wird, erreicht nicht unbedingt das Publikum in den Kinosesseln…

Renate Wagner

ESSEN/ Aalto-Theater: CAIN OVERO IL PRIMO OMICIDIO von Alessandro SCARLATTI – Premiere

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Foto: Jung Matthias

ESSEN: CAIN OVERO IL PRIMO OMICIDIO von Alessandro SCARLATTI – Premiere
25.1. 2020 (Werner Häußner)

Ein von der Zeit ausgezehrter, nobler Raum, verblichene Tapeten, ein halbblinder Spiegel. Man sitzt bei Tische, zwei Violinisten spielen Tafelmusik. Die Gewänder entsprechen der Mode kurz nach Beginn des 18. Jahrhunderts. Es ist die Zeit, in der Alessandro Scarlatti in Venedig sein Oratorium über Kains Mord an seinem Bruder Abel geschrieben hat, eine der Schlüsselgeschichten des Alten Testaments aus dem vierten Kapitel des Buches Genesis. Am Aalto-Theater Essen kleidet sie Dietrich Hilsdorf mit seinen Ausstattern Dieter Richter (Bühne) und Nicola Reichert (Kostüme) ins Ambiente der Entstehungszeit, doch pflegt damit keinen Historismus, sondern entwickelt ein hochartifizielles Zeichensystem, das für Scarlattis verkappte Oper aus dem Jahre 1707 komplexe Aspekte einer Deutung zulässt.

In seiner 20. Inszenierung für das Essener Theater – erinnert sei an die Skandale mit Verdis „Trovatore“ und „Don Carlo“, aber auch an spannende psychologisch fundierte Kammerspiele – macht Hilsdorf aus der biblischen Geschichte ein Familiendrama in geschlossenem Raum ohne Ausweg: Gott und der Teufel sind keine aus dem Off dröhnenden Übermächte,  sondern heben am Tisch mit den Menschen das Glas, geraten mit ihnen in körperlichen Kontakt. Wesen aus Fleisch und Blut und dennoch durch ihre Positionen im Geschehen auf der Bühne oft seltsam enthoben: Ein treffend erfundenes Bild für die Präsenz des Transzendenten in, aber nicht seine Identität mit den Lebensvollzügen der Menschen.

Hilsdorfs Fähigkeit, die Bühne auch bei stillstehender Interaktion mit Leben und Spannung zu erfüllen, macht aus diesem pausenlosen 140-Minuten-Stück einen Abend ohne Leerlauf. In jedem Moment auf die Personen auf der Bühne konzentriert, erschließt er mit seinen Darstellern in präzis ausgeformten Gesten und Gängen ihre seelische Verfassung, ihre Emotionen, ihre inneren Entscheidungen. Und das in einem äußerlich handlungsarmen Verlauf, denn das Libretto des Kardinals Pietro Ottoboni – der gleichzeitig mit Scarlatti auch den jungen Händel förderte – stellt die theologische Reflexion gleichrangig neben die biblische Erzählung. Hilsdorfs Vorzug ist, dass er diese Ebene in seine Inszenierung integrieren kann. Der Provokateur von früher hat sich zum genau analysierenden Beobachter gewandelt.

Hilsdorfs Zeichensystem lebt aus sinnenfrohen Details, die sich dennoch zu einem schlüssigen Ganzen fügen: Adam und Eva tragen Gewänder in der Bußfarbe Violett. Der Teufel tritt, in eine kostbar gearbeitete Prachtrobe gehüllt, als mondäne Frau auf – mit einer Anmutung von Macht und Erotik, die Kain in ihren Bann ziehen muss. Dass der Böse die Macht Gottes nachäfft, wird deutlich beim Entschluss zum Brudermord: Wie der Schöpfergott Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle streckt er den Finger aus, der quasi den mörderischen Funken auf Kain überträgt.

Zwei Kerzen signalisieren die Opfer: Abels Kerze flammt hoch, Kains Kerze raucht nur. Zurücksetzung und die damit empfundene Ungerechtigkeit, Neid und der Dünkel des „Erstgeborenen“ motivieren die Tat Kains. Er bläst die Kerze des Bruders aus und erschlägt ihn unter der festlichen Tafel. Kain und Luzifer trinken sich zu. Später wird Gott den Teufel aus dem Reifrock schälen und so die Täuschung aufheben: Im Untergewand am Rande sitzend, wird dieser die Trauer Adams und Evas beobachten und dabei versonnen einen Apfel schälen. Das Böse bleibt Bestandteil der Welt; es ist aber auch an der Rettung beteiligt: Wenn Adam im zweiten Teil auf die Menschwerdung Gottes in Jesus anspielt („aus meinem Blut soll der Erlöser geboren werden“), nagelt der Teufel ein Kreuz mit einem Corpus an die Wand. Das Ende bleibt ambivalent: Dass alle Protagonisten am Tisch die Suppe auslöffeln, wirkt unverkennbar ironisch, lässt aber eine sozusagen eschatologische Versöhnung nicht außer Acht. Das Familiendrama und das universale Schöpfungs- und Erlösungsdrama gehen ineinander über.

Hilsdorf ist zudem ein Regisseur, der ursprünglich aus dem Schauspiel kommend selbst in seinen provozierendsten Arbeiten nie vergessen hat, szenisch mit der Musik zu interagieren. In Essen führt die musikalische Sensibilität zu einer glücklichen Einheit von Bild und Klang, die über die Integration des Orchesters in das Bühnenbild hinausgeht. Dirigent Rubén Dubrovsky hält den direkten Kontakt zu Szene, die Sänger und die Musiker stellen sich ideal aufeinander ein.

Scarlattis Musik erweist sich in ihrer Tonarten-Dramaturgie und in ihrer vielfältigen, klangsensiblen Durcharbeitung geradezu als theologisch inspiriert. In ihrer Arie „Sommo Dio“ etwa äußert Eva die bittende Hoffnung auf Befreiung durch das „heilige Holz“ und das „geopferte Lamm“ und bringt damit die neutestamentliche, christologische Perspektive ein. Das Lamm, das Abel opfern will, ist ein anderer Verweis auf Christus, das „Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“. Die Arie steht in g-Moll, und in dieser Tonart kündigt sich das Erscheinen Gottes in einer Sinfonia – also zunächst rein instrumental – an.

Gottes Arie – durch die Art („mezzo carattere“) mit Abel verbunden – steht dann in F-Dur und hebt sich damit deutlich ab – die Transzendenz des Erlösung verheißenden Gottes wird betont, während er, wenn er Kain die Folgen seiner Tat klarmacht, das „menschliche“ g-Moll in G-Dur moduliert, verbunden mit einem unerbittlichen Streicher-Ostinato, welches das Schicksal des mit dem Kainsmal zugleich gezeichneten und vor dem Tod geschützten Mörders in scharfen, harten Akzentuierungen verdeutlicht.

Auf diese Weise schafft die dramatisch begründete, dennoch souverän formal gestaltete Musik Scarlattis eine enge Verbindung mit der Szene. Die Essener Philharmoniker sind in ihrem wachen, flexiblen Spiel, in Klang, Phrasierung und Artikulation nahe an historisch informierten Spezial-Ensembles. Eine fabelhafte Leistung der Musiker, die sich ja mit Repertoire aus allen Epochen befassen müssen, aber auch von Dubrovsky: Der Wahl-Wiener und Gründer des Wiener Bach Consort, der demnächst Händels „Alcina“ in Hannover und „Giulio Cesare“ in St. Gallen dirigiert, stellt die Beziehung zwischen Bühne und Orchester her und führt die Sänger sicher und in organischen, wenn auch manchmal sehr beschaulichen Tempi. Die Instrumentierung ordnet etwa das Fagott in den g-Moll-Arien Evas oder die beiden Flöten szenisch zu; ein Verfahren, das Scarlatti in seiner Partitur zumindest andeutet, wenn er etwa vorschreibt, die mörderischen Schläge Kains durch Blasinstrumente zu „imitieren“. Und für den Auftritt des Teufels pervertiert Felix Schönherr mit unheimlich schnarrenden Registern den sakralen Klang der Orgel.

Gesungen wird in Essen ebenfalls vorzüglich. Bettina Ranch führt ihren Mezzo elegant durch die Bravour und das Cantabile der Arien Kains, beleuchtet stimmlich die Facetten dieses Charakters, der sich keineswegs im „Bösen“ erschöpft und im Widerstand gegen die zweite Versuchung des Teufels, sich selbstbestimmt das Leben zu nehmen und damit ultimativen Widerstand gegen Gott zu leisten, einen heroischen Zug erhält. Tamara Banješević umkleidet die Trauer und Reue Evas, aber auch ihre Hoffnungen mit einem weich formenden, innigen, flexibel ausgestaltenden Sopran. Dmitry Ivanchey als gebrochener, am Stock gehender Mann in edlem Justaucorps, muss sich in seiner ersten „aria di bravura“ noch mit Mühe und fest sitzender Stimme durch Sechzehntelketten kämpfen, gewinnt aber im Lauf des Abends souveräne Präsenz. Xavier Sabata setzt einen virilen Alt für die Stimme Gottes ein, die er auch mit Schärfe und profunder Energie dramatisch aufladen kann.

Baurzhan Anderzhanov kann mit seinem unverschleierten, in der Artikulation unbestechlichen, klanglich schlank-leuchtenden Bass in einer weiteren Glanzrolle am Aalto-Theater brillieren. An Philipp Mathmanns Stimme werden sich die Geister scheiden: Der Counter intoniert traumsicher, singt aber die Töne steif, manchmal überzogen schrill an und pflegt das geradlinige „weiße“ Timbre, das in Alte-Musik-Kreisen bisweilen sehr geschätzt wird, mit italienischem Belcanto aber wohl wenig zu tun hat. Dietrich Hilsdorf, der nach sieben Jahren an das Essener Haus zurückgekehrt ist – und in zwei Jahren eine neue Inszenierung verantworten wird – erhielt einhellige Ovationen; das gesamte Ensemble genoss den langen, herzlichen und verdienten Jubel des Publikums.

Werner Häußner


Film: LITTLE WOMEN

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Filmstart: 31. Jänner 2020
LITTLE WOMEN
USA / 2019
Regie: Greta Gerwig
Mit: Saoirse Ronan, Emma Watson, Florence Pugh, Eliza Scanlen, Meryl Streep, Laura Dern u.a.

Immer wieder verfilmt: „Little Woman“, der Roman von Louisa May Alcott, 1868 / 69 in zwei Teilen erschienen. Die Motive, das in den USA sehr berühmte und als Zeitdokument unendlich wichtige Werk auf die Leinwand zu bringen, waren in früheren Zeiten wohl unterschiedlich – vier sehr verschiedene Schwestern, das bedeutete vier gute Rollen für potente Hollywoodstars (Katherine Hepburn oder Elizabeth Taylor waren, in verschiedenen Verfilmungen, dabei). Außerdem erlaubte die mittlerweile gut hundertfünfzigjährige Geschichte einen „schönen“ Kostümfilm.

Nun, bekanntlich sehen wir die Dinge anders – und Greta Gerwig, die als Darstellerin immer in der zweiten Reihe geblieben ist, aber als Regisseurin mit „Lady Bird“ so bemerkenswert und verdient reüssiert hat, sieht nun die Dinge wohl richtig. Und zwar im Sinn der Autorin. Mit vollem Verständnis für jene Frauen, die in Reifröcke gesteckt wurden und, wenn sie selbständig denken konnten, innerlich vor Wut geschüttelt wurden, Frau zu sein. Das bedeutete einen engen Handlungsrahmen, bedeutete ein mehr oder minder von anderen vorbestimmtes Schicksal, bedeutete Unfreiheit und, wenn man sich nicht dagegen wehrte, Unbildung (lernen zu dürfen, war ein Privileg), Mittelmäßigkeit, öde Routine…

Wie immer und überall gab es nur ein Entkommen, und die alte Tante March, von Meryl Streep wieder einmal unvergesslich gespielt, sagt auch offen auf die Frage, warum sie denn nicht verheiratet sei: Sie konnte es sich leisten, sie ist reich… Ihre Nichten, Jo, Meg, Amy und Beth March, sind es nicht. Und doch hat sich die schreibende Autorin in der Figur der Jo ein Denkmal gesetzt – ein Denkmal des Protests, des Versuchs der Unabhängigkeit durch Schreiben.

Logischerweise beginnt der Film also mit Jo (die großartige Saoirse Ronan, zuletzt die Maria Stuart des Kinos, die schon Greta Gerwigs „Lady Bird“ so überzeugend machte): Sie wird bei dem alten, routinierten Verleger Mr. Dashwood (Tracy Letts) vorstellig und kann gar nicht glauben, als er ihre Geschichte nimmt. Vielleicht auch weitere, aber sie soll sich schon merken – „short und spicy“, also kurz und g’schackig, hat es zu sein, und am Ende müsse die Heldin verheiratet oder tot sein. Merk’s: richtig ist, was sich verkauft. Und vor allem: Unterhalten soll sie mit ihrem Schreiben, nicht predigen… Irgendwie hat das auch der „Little Women“-Autorin Louisa May Alcott, getan (unterhalten nämlich) wenngleich die neueste Verfilmung natürlich auf einer Feminismus-Welle segelt, die beispielsweise die neuen „Drei Engel für Charlie“ kaputt gemacht hat. Tatsächlich – Regisseurinnen predigen heute, als habe man den Feminismus erst jetzt entdeckt, als sei er nicht immer wieder erkämpft worden. Immer wieder, ja. Und jetzt – nach #metoo, das hier keine Rolle spielt – erneut?

Die schriftstellernde Jo ist also das Zentrum der Geschichte, aber es geht natürlich um die verschiedenen Charaktere und Schicksale. Und auch um die Familie im Ganzen, der Vater (Bob Odenkirk) ist im Krieg (der Bürgerkrieg, allerdings hier auf Seiten der Nordstaaten), die Mutter (Laura Dern, neuerdings – man denke an „Marriage Story“ – die Meisterin der Nebenrollen) hat immer Probleme mit dem Geld.

Und im Grunde dreht sich alles darum, wen die jungen Mädchen einmal heiraten werden, und ob sie, die finanziell nichts mitbringen, eine gute Partie machen werden (denn reiche Söhne sollen auch reiche Mädchen ehelichen)… Natürlich ist solcherart ein wohlhabender junger Mann aus der Nachbarschaft (Timothée Chalamet, sehr sensibel) allseits (auch für alle vier Schwestern…) das Objekt der Begierde.

Großes Gewicht liegt auch auf der Schwester Meg (eine sehr schöne Leistung von Emma Watson, die zehn Jahre lang Harry Potters Freundin Hermine war, aber ebenso wie „Harry“ Daniel Radcliffe dieses Klischee mühelos abgeschüttelt hat). Sie, die so gerne reich wäre (man erlebt, wie wichtig schöne Kleider für sie sind), nimmt dann doch einen gar nicht wohlhabenden Mann (James Norton) – aus Liebe. Und da ist die sensible Beth (Eliza Scanlen), die so leidenschaftlich gern Klavier spielt, aber keine Chance auf ein Künstlerdasein hat (und tragisch endet). Und schließlich die entschlossene Amy (Florence Pugh, durchaus unvergessen als des Kinos „moderne“ Lady Macbeth), die es schafft (statt Jo, die es sich so gewünscht hat), die reiche Tante nach Paris zu begleiten…

Das Bemerkenswerte an diesem unkitschigen Film von Greta Gerwig ist die Interaktion der vier jungen Frauen, ihrer Mutter und der reichen alten Tante, Lebensentwürfe zwischen Zwängen und Aufbegehren, in einer Männerwelt, die hier nicht übertrieben negativ und brutal gezeichnet wird. Dass die Handlung zwischen Zeitebenen hin- und her springt, stört in diesem Fall nicht. Es gab in den USA Diskussionen darüber, wie die Regisseurin einige Male die Vorlage der Autorin geändert hat. Doch was immer man sieht, ist zum Nutzen der Geschichte.

Wenn Jo es am Ende geschafft hat, wenn ihr Buch gesetzt, gedruckt, gebunden wird, wenn sie ihren Roman in der Hand hält und ihn umarmt – dann ist das ein Ende, das zufrieden macht. Ein kluger Film, schön gespielt, der nicht nur von Resignation, sondern auch Hoffnung erzählt.

Renate Wagner

Film: EIN VERBORGENES LEBEN

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Filmstart: 31. Jänner 2020
EIN VERBORGENES LEBEN
A Hidden Life / Deutschland, USA / 2019
Drehbuch und Regie: Terrence Malick
Mit: August Diehl, Valerie Pachner, Bruno Ganz, Karl Markovics, Tobias Moretti, Johannes Krisch u.a.

Man kann nicht sagen, dass die Nachwelt Franz Jägerstätter (1907 – 1943) Beachtung und Bewunderung verwehrt hätte, im Gegenteil. Ein oberösterreichischer Bauer, der sich aus seiner katholischen Überzeugung heraus weigerte, den Eid auf Adolf Hitler zu leisten, und der dafür seinen Tod in Kauf nahm. Das hat mittlerweile zahllose Bücher ergeben, mehrere Theaterstücke, darunter eines von Felix Mitterer, eine Oper, TV-Filme (darunter von Axel Corti) und Spielfilme, auch eine Website der katholischen Kirche Oberösterreichs. Bendikt XVI., der deutsche Papst, hat Franz Jägerstätter selig gesprochen.

Und dabei ist das, was dieser Mann tat, keinesfalls unumstritten. Denn man hat damals vielfach versucht, Jägerstätter entgegen zu kommen, hätte ihn vom Dienst mit der Waffe befreit, versicherte ihm, dass niemand den Schwur auf Hitler ernst nehmen würde… Aber er beharrte gewissermaßen auf seinem Tod und tat seiner Ehefrau, seiner Mutter, seinen drei kleinen Töchtern damit unsagbares Leid an, was man auch im katholischen Sinn als Pflichtverletzung betrachten kann (da er es ja hätte verhindern können). Die anderen waren ihm nicht so wichtig wie seine Überzeugung. Nicht nur, dass er seine Familie im Dorf zu Außenseitern machte, die entsprechend behandelt wurden, er mutet ihnen auch gewissermaßen sein Schicksal, seinen Tod zu. Kurz, es gibt Menschen, die es mit der großen Bewunderung für Franz Jägerstätter schwer haben.

Was Weltregisseur Terrence Malick für Jägerstätter empfand, dem er einen dreieinviertelstündigen (!) Film widmete, weiß man auch nicht genau. Malick wird seinem Ruf als Schöpfer hoch komplizierter Werke wieder gerecht – nicht, weil er den Film so unverständlich anlegte wie sonst oft. Sondern weil man im Endeffekt eigentlich nur eine Aussage herausholen kann, und die hat nicht so sehr mit Jägerstätter persönlich zu tun…

Was erzählt man nun in sehr, sehr langen dreieinviertel Stunden? Handlungsmäßig nicht allzu viel. (Und gesprochen wird – Englisch…) Es ist die Stimmung, die den Regisseur interessiert hat – und die Landschaft. St. Radegund, Oberösterreich, damals wie heute ein Dorf mit rund 500 Einwohnern. Großteils Bauern wie Franz Jägerstätter. Mit Gattin Franziska (Valerie Pachner) und Schwägerin Resi (Maria Simon), die offenbar von ihrem Mann schmerzlich getrennt ist (es wird nicht viel geredet, man erfährt nicht viel von den Menschen), bewirtschaftet er seinen Hof. Sät und erntet. Kümmert sich um die Tiere. Kleine Mädchen laufen herum. Friedlicher Alltag, der bei aller Schwere der Arbeit von den hier gezeigten Menschen so gewollt wird.

Und die Landschaft. Von der kann Malick, kann Kameramann Jörg Widmer (sonst, weniger anspruchsvoll, meist fürs Fernsehen tätig) nicht genug bekommen. Felder, Wege, bescheidene Bauernhäuser, Wald, Bäche, Wiesen, Wolken, die Berge im Hintergrund. Zu allen Tageszeiten, in allen Farben. In einem alten „Heimatfilm“ hätte man das Zelebrieren solcher Natur-Idylle für kitschig erachtet. Hier ist es Dramaturgie, und man würde nicht wagen, etwas dagegen einzuwenden. Denn ist es nicht das, was dieser Film erzählt: Wie friedliches Leben gänzlich durch die Willkür der Politik zerstört wird (wobei die brutale Realität nur in einigen Wochenschauaufnahmen zitiert wird) ? Darum geht es doch – oder?

Denn der Franz Jägerstätter, der unpathetische Bauer, der hier sein Leben führt, wird in seinem Denken und Handeln nicht wirklich greifbar. Man holt ihn 1940 zum Militär, noch muss er nicht in den Kampf, darf zurück ins Dorf, schließlich ernähren die Bauern das Land. Man sieht, wie er sich an die Kirche wendet – Tobias Moretti als zögerlicher Pfarrer macht schon klar (ebenso wie später seine Vorgesetzten), dass die Kirche nicht auf Widerstande, sondern im Gegenteil auf Koexistenz mit dem Nazi-Regime gepolt ist. Auch im Dorf haben sich die meisten von der neuen Ideologie überzeugen lassen, da ist ein Abweichler nicht erwünscht, hat wenige Gesinnungsgenossen (Johannes Krisch als Müller ist ein solcher). Der Bürgermeister (Karl Markovics) mit Stolz geblähter Brust äußert seine Bedenken. Die Ausgrenzung der Familie beginnt, und als Jägerstätter den Wehrdienst verweigert, wird er verhaftet. Nun zeigt der Film immer wieder – in seiner stillen Art, die nie laut anklagt – , was Frau und Töchter an Verachtung zu ertragen haben…es tut ja so gut, sich an Außenseitern abzuarbeiten, nicht?

Jägerstätter bleibt auch in der Haft still. Hier ist Terrence Malick gewiß nicht schonungsvoll, reizt aber die Brutalität nicht so aus, wie man es oft gesehen hat. Es gibt während des Prozesses, bei dem das Todesurteil gefällt wird (anderes war bei den Nazis bei „Wehrkraftzersetzung“ nicht vorgesehen), eine ergreifende Szene mit dem Richter in Uniform (es war möglicherweise letzte Rolle des großen Bruno Ganz): Er möchte begreifen, möchte wissen, was diesen Mann antreibt. Der sagt es wieder nicht. Er schweigt. Er schafft es nur, dass der andere sich geniert.

Nun ja – der Kinobesucher hätte gerne den Argumenten zugehört, warum einer, dem man jede Brücke gebaut hätte, sein Leben wegwirft. Aber wenn man es genau nimmt, ist noch jeder (auch etwa Mitterer in seinem Theaterstück) die verbindliche Erklärung schuldig geblieben…

Man sieht nur mit gebührender Bewunderung die unbewegte Miene, mit der August Diehl entschlossen durch sein Schicksal geht. Tun, was er als richtig erkannt hat – allerdings ohne Rücksicht auf die bedeutenden Verluste, auf die menschliche Zerstörung, die er an seinen Angehörigen anrichtete.

Prädikat der Filmbewertungskommission der Länder: Besonders wertvoll.

Renate Wagner

 

ATHEN/ Greek National Opera: WOZZECK

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Copyright: Greek National Opera

Greek National Opera, Athen: Wozzeck

Besuchte Vorstellung am 26. Januar 2020

Die Welt als Tollhaus

Die griechische Nationaloper setzt ihre Erweiterung und Entdeckung des modernen Opernrepertoires fort. Zum ersten Mal in ihrer achtzigjaehrigen Geschichte steht Alban Bergs „Wozzeck“ auf dem Programm. Die 1925 uraufgefuehrte Oper wurde zuvor nur im Musikzentrum Megaro Mousikis auf die Buehne gebracht. Dort setzte Georg Rootering das Werk 1995 in Szene, Michael Schonwandt dirigierte das Berliner Sinfonie-Orchester, das heutige Konzerthausorchester Berlin. Nun kehrt die Oper, welche einen Meilenstein in der Musiktheatergeschichte darstellt, in die griechische Kapitale zurueck. Fuer die Inszenierung zeichnet Olivier Py verantwortlich, der seit 2013 das renommierte Festival d’Avignon leitet.

Der franzoesische Regisseur zeigt, tatkraeftig unterstuetzt vom Ausstatter Pierre-Andre Weitz, eine unheimlich gegenwaertige Welt. Die Buehne wird beherrscht von einer tribuehnenartig auf- und absteigenden Hochhausarchitektur, welche die Figuren eher einschliesst denn individuell befreit. Die so dargestellte Stadt entpuppt sich als Labyrinth und Machtinstrument, als spaetkapitalistisches Tollhaus, in dem klare Hierachien herrschen. Die zahlreichen Umbauten gehen fliessend vor sich, offenbaren immer neue architektonische Facetten und geben dem Ganzen ein filmisches Gepraege. Wozzeck erscheint als hilflos Gefangener in einer Welt, die zwar Gott kennt, aber Natur nur mehr als Idee und Experiment zulaesst. Olivier Py akzentuiert das Geschehen mit Symbolen, von denen der als Clown gezeigte Narr das auffaelligste ist. Der Totenkopf, den Wozzeck zu Beginn auf einem Stuhl findet und der Clown. der staendig und ueberall auftaucht, lassen sich als Mementi mori verstehen. Die Titelfigur wird gleich einem Spielball durch das Geschehen getrieben, sie erscheint verloren in einer Welt, die als Ausgang nur den Tod kennt. Pys Personenfuehrung fokussiert auf die Welthaltigkeit des Stoffes und weniger auf die Beziehungen zwischen Wozzeck und seiner naeheren Umgebung. In Hinblick auf Marie, Andres und den Doktor koennte man sich tatsaechlich eine schaerfere Zeichnung der Personen vorstellen. Insbesondere die Frauenfigur haette mehr Aufmerksamkeit verdient. Der Inszenierung gelingt gleichwohl eine stringente, spannungsreiche Erzaehlung der Geschichte.

Vassilis Christopoulos am Pult des Opernorchesters sorgt fuer eine beachtliche Wiedergabe des Werks. Er hat den Apparat nicht nur unter Kontrolle, er weiss das musikalische Geschehen auch sinnhaltig zu formen und voranzutreiben. Es sind vor allem die Blaeser und Perkussionisten, welche unter seiner Leitung zu Hochform auflaufen. Der Orchesterepilog vor der Schlussszene macht dies beispielhaft deutlich. Der Klangkoerper zeigt, was er kann, wenn er den richtigen Dirigenten am Pult stehen hat. Die kurzen Einsaetze von Chor und Kinderchor der Nationaloper kommen akkurat daher. Die beiden Kollektive wurden von Agathangelos Georgakatos und Konstantina Pitsiakou gut praepariert.


Copyright: Greek National Opera

Tassis Christoyannis hat nicht den charaktervollsten Bariton, aber die Faehigkeit, seine Stimme gestalterisch zur Wirkung zu bringen. Ausserdem ist er schauspielerisch begabt, so dass er einen ueberzeugenden Wozzeck abgibt. Peter Hoare als Hauptmann und Peter Wedd als Tambourmajor setzen starke tenorale Akzente. Der Andres des jungen Tenors Vassilis Kavayas laesst aufhorchen. Tadellos ist auch der von Yanni Yannissis gesungene Doktor. Nadine Lehner als Marie braucht etwas Zeit, um ihre Stimme voll entfalten zu koennen – wobei es auch an der akustisch nicht ganz einfachen Buehnenarchitektur liegen mag, dass sie anfangs stimmlich weniger stark hervortritt. Lehners Sopran gibt der Figur jedenfalls ein empfindsames, ansprechendes Profil. Das gesamte Ensemble hinterlaesst einen ueberzeugenden Eindruck und verhilft Alban Bergs „Wozzeck“ zu einer stimmigen und gelungenen Erstauffuehrung an der griechischen Nationaloper.

Das Publikum spendet anhaltenden Beifall mit Bravorufen fuer Saenger, Dirigent und Orchester,

Ingo Starz/ Athen

 

 

MÜNCHEN/ Prinzregententheater: L’ILE DU RÊVE von Reynaldo Hahn – konzertant

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Reynaldo Hahn. Foto: Wikipedia

Opernrarität in München: „L’ile du rêve“ von Reynaldo Hahn (konzertante Vorstellung: 26. Jänner 2020)

Am 26. Jänner 2020 brachte der Bayerische Rundfunk im Rahmen seiner Sonntagskonzerte im Münchner Prinzregententheater die Opernrarität „L’ile du rêve“ von Reynaldo Hahn  in französischer Sprache mit deutschen Übertiteln konzertant zur Aufführung – neuerlich in Zusammenarbeit mit der Stiftung Palazzetto Bru Zane, dem Zentrum der französischen Musik der Romantik. Auf diese Weise wurden bereits seit dem Jahr 2015 einige zu Unrecht vergessene Werke dem Publikum wieder zugänglich gemacht.

Der Komponist Reynaldo Hahn (1875 – 1947), der venezolanischer Herkunft ist, kam als Kind nach Paris, wo er am Musik-Konservatorium u. a. bei Jules Massenet studierte. Er fiel sehr früh durch seine Lieder auf, mit denen er das Publikum in seinen Bann zog. Reynaldo Hahn schrieb mehrere Opern – nach L’ile du rêve (1898) folgten La carmélite (1902), Nausicaa (1919) und Le marchand de Venise (1935), doch war seine eigentliche Domäne die Operette. Sein Meisterwerk in dieser Sparte war Ciboulette (1923), die in Frankreich bis heute einige tausend Aufführungen erlebte. Für seine musikalische Komödie Mozart verwendete er Musik seiner Titelfigur. In der Saison 1945 / 46 war er Direktor der Pariser Oper.

Da die Oper L’ile du rêve trotz dreier Akte nur von kurzer Dauer ist, wurde der erste Teil des Abends mit mehreren Liedern von Reynaldo Hahn, Jules Massenet und Gabriel Fauré gestaltet. Zu Beginn allerdings ließ Hervé Niquet, der das Münchner Rundfunkorchester äußerst temperamentvoll dirigierte, die Ouvertüre von Hahns Komödie Mozart spielen. Danach sang der Tenor Cyrille Dubois drei Lieder von Jules Massenet: Herbstgedanken; Wenn du möchtest, Feinsliebchen; Kleines Mädchen, ehe die Mezzosopranistin Anaïk Morel dessen Lieder Der Poet und das Phantom und Man sagt (Ein einfacher Satz) zum Besten gab. Dazwischen wurden verschiedene Lieder von Reynaldo Hahn gespielt: Aus einem Gefängnis, Mai und Landschaft sowie zwei Lieder von Gabriel Fauré: Mondschein und Lied des Fischers. Vor der Pause kamen schließlich noch weitere Lieder von Massenet zur Aufführung: Die Verliebte, Ich liebe dich (innig gesungen von der Sopranistin Ludivine Gombert) und Der Improvisator – Erinnerung an Trastevere, Rom 1864 (gesungen vom Bariton Thomas Dolié) sowie zum Abschluss des ersten Teils Die Blumen (dargeboten von der Mezzosopranistin Anaïk Morel und vom Bariton Thomas Dolié

Nach der Pause stand endlich Reynaldo Hahns Oper L’ile du rêve auf dem Programm, deren Libretto André Alexandre und Georges Hartmann nach dem Roman „Le mariage de Loti“ von Pierre Loti verfassten und die im Jahr 1898 in Paris an der Opéra Comique uraufgeführt wurde. Die Handlung spielt in Tahiti, der „Insel der Träume“, wo allein der Augenblick zählt. Denn die Liebe zwischen dem europäischen Offizier Loti und der einheimischen Mahénu hat keine Zukunft. Die anmutigen Klänge Hahns vermitteln freilich ein exotisches Paradies – französisches Fin de Siècle in Reinkultur!

Bei der Auswahl des Sängerensembles wurde, wie man bei der Einführung zur Vorstellung erfahren konnte, großen Wert auf das spezielle stimmliche Profil für dieses Repertoire gelegt.

Alle Sängerinnen und Sänger, die im ersten Teil des Konzerts als Liedinterpreten agierten, waren dann auch in der konzertanten Opernaufführung im Einsatz. Cyrille Dubois sang mit seiner angenehm warmen Tenorstimme den Offizier Loti der französischen Marine, die Mezzosopranistin Anaïk Morel gab mit ihrer ausdrucksstarken und wandlungsfähigen Stimme die tahitische Prinzessin Oréna und die Sopranistin Ludivine Gombert lieh ihre Stimme sowohl Téria, einer Frau aus Tahiti, wie auch der Hofdame Faïmana. Mehrere Rollen hatte der Bariton Thomas Dolié zu singen: den tahitischen GreisTaïrapa, Adoptivvater von Mahénu, sowie den Offizier Henri und noch einen weiteren Offizier.

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Hélène Guilmette

Dazu kamen noch die kanadische Sopranistin Hélène Guilmette in der Rolle der Mahénu, die sich in den französischen Offizier Loti verliebt, und der armenische Tenor Artavazd Sargsyan, der den chinesischen Händler Tsen Lee und einen weiteren französischen Offizier zu singen hatte. Sie alle boten stimmlich eine eindrucksvolle Leistung – ebenso wie der Chor von „Le Concert Spirituel“, der in der Rolle der einheimischen Männer und Frauen für das polynesische Lokalkolorit sorgte. 

Das beifallsfreudige Publikum im Münchner Prinzregententheater –  es applaudierte vor der Pause nach jedem Lied den Interpreten, dem Orchester und dem Dirigenten – zollte am Schluss allen Mitwirkenden nicht enden wollenden Beifall. Es war ein französischer Opernabend vom Feinsten!

Udo Pacolt

 

 

 

 

 

 

FRANKFURT / Alte Oper: „JUAN DIEGO FLÒREZ-PHILHARMONIE BADEN-BADEN-MICHAEL BALKE“

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Frankfurt / Alte Oper: „JUAN DIEGO FLÒREZ-PHILHARMONIE BADEN-BADEN-MICHAEL BALKE“ – 26.01.2020

Eine der schönsten Stimmen unserer Zeit gab sich zum DEAG-Classics – Konzert in der Alten Oper die Ehre, ich wage zu sagen die schönste lyrische Tenorstimme der Gegenwart

Juan Diego Flórez.

Erstmals begegnete mir der smarte Peruaner im Jahre 2006,  inzwischen während mehreren Recitals sowie auf der Bühne der Wiener Staatsoper. Zur Leichtigkeit des Seins im wahrsten Sinn des Wortes eröffnete Juan Diego Flórez sein umfangreiches Programm mit den beiden Duca-Arien Questa o quella – Ella mi fu rapita… Parmi veder le lagrime aus „Rigoletto“. Eindringlich von elegantem Legato erfüllt folgte O dolore aus „Attila“.

Als Übergang in dramatischere Gefilde wählte der Tenor dessen Stimmfarbe inzwischen leicht nachdunkelte, das unverkennbare herrliche Timbre, den betörenden Klang noch immer beibehielt, zu drei weiteren Preziosen aus der Feder Giuseppe Verdis La mia letizia infondere aus „I Lombardi“, das leidenschaftliche Bekenntnis aus „I due Foscari“ Brezza dal suol natio.. der Cabaletta Odio solo. Sehr emotional schwärmerisch folgten Alfredos Lunge da lei… De´ miei bollenti spiriti aus dem II. Akt „La Traviata“.

Mit Augenmerk auf jeden Ton des Solisten bettete Michael Balke mit der harmonisch und temperamentvoll musizierenden Philharmonie Baden-Baden  Flórez in instrumentale Watte. Orchestral präsentiert wurden zudem als Übergänge die Verdi-Ouvertüren „Nabucco“ und „I vespri siciliani“, dem sehr rhythmisch-präzisen Ungarischen Marsch (Berlioz) und in sensibler Klanggestaltung das Intermezzo aus „Cavalleria rusticana“ (Mascagni).

Schmelzreich, hell strahlend, höchst kultiviert gewährte Flórez zum Entzücken des Publikums drei traumhaft interpretierte Beiträge von Franz Lehár: Dein ist mein ganzes Herz – Gern hab´ ich die Frau´n geküsst – Freunde, das Leben ist lebenswert und brachte die Stimmung im Saal zum Siedepunkt.

Kernig, emphatisch, herrlich phrasiert, unvergleichlich schön erklangen die beiden Ausflüge ins jugendlich-dramatische französische Fach berührend, atmosphärisch, wunderschön zunächst Pourquoi me réveiller des „Werther“ (Massenet) sowie die prächtig intonierte Blumenarie des José (Bizet) jeweils gekrönt von brillant-tenoralem Höhenstrahl.

Mit viel Italiana, nonchalant, elitär, melodisch endete das Recital mit Rudolfos Che gelida manina aus „La Boheme“ (Puccini).

Das Publikum und ganz besonders die Damenwelt zeigten sich außer Rand und Band, feierten den sympathischen Tenor spontan mit Standing Ovation und Bravo-Salven. Erfreut  so viel herzlicher Zuwendung zeigte sich der Gefeierte sehr spendabel und beglückte das Auditorium, sich selbst auf der Gitarre begleitend mit fünf Liedern aus seiner südamerikanischen Heimat u.a. Currucucu paloma,  dass es die Zuhörer erneut aus den Stühlen riss. Die Begeisterung im Saal wollte nicht enden und Flórez gewährte noch zusammen mit dem Orchester und Balke Granada (Lara) und Calafs Nessun dorma (Puccini).

Gerhard Hoffmann

 

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