Nicole Heesters. Foto: Bo Lahola
Gastspiel der Hamburger Kammerspiele „Marias Testament“ am 24.2.2020 im Kammertheater/STUTTGART
Aufbegehren gegen das Unvermeidbare
Nicole Heesters brillert in diesem ungewöhnlichen Ein-Personen-Stück mit vielen darstellerischen Schattierungen und Nuancen. Es geht um Maria, die Mutter von Jesus Christus. Sie erzählt von der Entfremdung, vom grausamen Tod ihres Sohnes. Maria ist hier eine alte Frau, die allein in der antiken Stadt Ephesos lebt und mit ihren düsteren Erinnerungen hadert. Zwei Jünger fragen sie in ihrem Haus nach den aufwühlenden Ereignissen aus. Erwähnt werden vor allem die Wunder, die er vollbrachte, der Märtyrertod am Kreuz und die Wiederauferstehung. Dies alles wird in drastischen Worten und mit glühender Sprache geschildert: „Als ich das Kreuz sah, bekam ich keine Luft.“ Maria begehrt hier gegen die biblischen Geschehnisse in heftiger Weise auf. Von Erlösung hält sie wenig, vom Glauben an die Wiederauferstehung auch nicht. Sie ist zornig. Nicole Heesters gelingt es glänzend, die Seelenqualen dieser Frau zu verdeutlichen. Und sie hält auch nichts von den Lehren ihres Sohnes und seiner charismatischen Wirkung.
Der Autor Colm Toibin schildert die erschütternde Geschichte einer Mutter, die ihren Sohn nicht beschützen konnte. Maria ist hier eine Mutter, die ihren Sohn nicht mehr versteht und nicht einverstanden ist mit dem, was er tut. Sie möchte ein Zeugnis ablegen. „Ich werde nichts sagen, was nicht wahr ist“, betont sie. Sie ist eine „unerhörte Frau“, die die Welt aus den Angeln hebt. Dies kommt auch bei der beeindruckenden Darstellung von Nicole Heesters zum Vorschein. Maria schimpft über die Dummheit der Männer, berichtet wie in wilden Fieberphantasien von der Auferweckung des Lazarus. Der Satz „Er ist der Sohn Gottes“ kommt ihr fast ungläubig über die Lippen. Die Jünger sind für sie „Nichtsnutze“, die ihren Sohn gar nicht verstanden haben. Erschütternd schildert Maria dann die Qualen von Jesus am Kreuz, von den Einschlägen der Nägel und von den unentwegten Schreien des Opfers. Nicole Heesters geht bei diesen Passagen ganz in ihrer Rolle auf. Sie durchlebt die Stationen der Kreuzigung gleichsam neu. Doch sie hat auch klare Prinzipien: „Wenn Wasser in Wein verwandelt werden kann und die Toten zurückgeholt werden können, dann will ich, dass sich die Zeit zurückdreht. Ich will noch einmal leben, vor dem Tod meines Sohnes, oder bevor er von zuhause wegging, als er noch ein Junge war, ein kleiner Junge und sein Vater lebte und es Gutes in der Welt gab.“ Maria trauert dabei deutlich der Vergangenheit nach. Sie wünscht sich bessere Zeiten zurück. Sie lehnt die Gegenwart geradezu ab, weiß, dass sie bald sterben wird. „Ich will einen dieser goldenen Sabbat-Tage. Ich will vom Fenster aus sehen, wie sie beide aus dem Tempel nach Hause kommen“, fordert sie fast ultimativ.
Regie und Bühne von Elmar Goerden (Kostüm: Lydia Kirchleitner) passen gut zusammen. Ganz zu Beginn liegt Nicole Heesters als Maria wie begraben unter dem Tisch. Sie ist ebenfalls eine Auferweckte, die ganz allmählich die Bühne wie im Taumel für sich erobert. „Mein Sohn erzählt irgendwas und sein Vater hört zu, eine Hand auf seiner kleinen, schmalen Schulter. Das ist jetzt vorbei. Der Junge wurde zu einem fremden Mann und er verließ unser Haus und er starb am Kreuz“, stellt Nicole Heesters als Maria lakonisch fest. „Aber ich möchte mir vorstellen können, dass das, was ihm geschah, nicht kommen wird, dass es uns sehen und sagen wird: Nicht jetzt, nicht die! Das will ich!“ Das Aufbegehren gegen das Unvermeidbare steht bei der Aufführung immer wieder ganz deutlich im Mittelpunkt. Nicole Heesters stellt Maria aber auch als eine emotional stark angegriffene Frau dar, die ihre Wutausbrüche nur schwer kontrollieren kann. Sie schimpft über die Welt, die den ganzen Aufwand nicht wert ist. Der Text des irischen Autors Colm Toibin erinnert auch an die „Verteidigungsrede des Judas Ischariot“ von Walter Jens, obwohl hier andere Akzente gesetzt werden. Die Mutter Gottes wird dabei zum Menschen gemacht. Sie hat ihr Kind verloren und versucht verzweifelt, darüber Rechenschaft abzulegen. Sie sinnt krampfhaft und intensiv darüber nach, was sie versäumt hat. Und sie ringt sich dieses Testament unter Qualen ab. Episoden wie die Hochzeit von Kanaa oder der Lahme vom Teich gewinnen eine neue Dimension. Deutlich wird auch, dass sie die „Wunder“ ihres Sohnes eigentlich ablehnt und als skandalösen Eingriff in die Gesetze der Natur verurteilt. Als Jesus Christus ihr zuruft „Frau, was habe ich mit dir zu schaffen!“ verliert sie den Boden unter den Füßen. Das macht ihr Angst. Nicole Heesters gelingt gerade diese Sequenz ausgezeichnet. Sie möchte einfach eine Mutter spielen, nicht die Mutter Gottes. Auch das kommt bei der Aufführung packend zum Vorschein. Und dass bei der Hochzeit in Kanaa Wasser wirklich in Wein verwandelt wurde, glaubt Maria bei Colm Toibin auch nicht: „Es war schon erstaunlich, wie schnell diese Krüge plötzlich da standen.“ Maria ist bei dieser Inszenierung zudem als Putzfrau tätig, die das Zimmer eigentlich nur widerwillig reinigt. Nicole Heesters ist es als Schauspielerin hervorragend geglückt, die im Grunde genommen alterslose Maria plötzlich ganz anders lebendig werden zu lassen.
Das Publikum war von der Darbietung überwältigt.
Alexander Walther